Kreutz, Heinrich von Ulmen

Porträt einer europäischen Kernregion. Der Rhein-Maas-Raum in historischen Lebensbildern, hrsg. v. Franz Irsigler & Gisela Minn, Trier 2005. [zurück zur Übersicht]

Heinrich von Ulmen – ein Kreuzfahrer zwischen Eifel und Mittelmeer

von Bernhard Kreutz

„Der nutzt seine irdischen Güter glückbringend, wer durch sie nach den himmlischen strebt.“ Mit diesem sinnigen Spruch beginnt die Urkunde, in der der Ritter Heinrich von Ulmen am 9. August 1208 dem Kloster St. Nikolaus in Stuben den „Schatz“ übereignete, „der ihm über alle irdischen Güter am allerliebsten“ war und den er sicher nicht nur aus „göttlicher Inspiration“ aus der Hand gab. Es handelte sich um die Stubener, heute Limburger, Staurothek, eine prachtvolle byzantinische Reliquientafel, die einen Splitter vom angeblichen Kreuzesholz Christi in sich birgt. Das wertvolle Stück war in den Wirren nach dem Vierten Kreuzzug und der Plünderung Konstantinopels in seinen Besitz gelangt. Nach einer Odyssee durch halb Europa fand sie nun in dem idyllisch gelegenen Augustinerinnenkonvent am Moselufer für die nächsten rund sechshundert Jahre einen würdigen Aufbewahrungsort, bevor sie im Zuge von Revolution und Säkularisation in den Limburger Domschatz kam. Aber der Reihe nach!

Heinrich entstammte dem Geschlecht der Ritter von Ulmen in der Eifel, die zwei Generationen vor ihm, zu Beginn des 12. Jahrhunderts, erstmals in den Quellen auftauchten. Sie waren zunächst pfalzgräfliche Ministerialen, die wohl erst kurz zuvor aus dem Dienst für den Pfalzgrafen in den niederen Adel aufgestiegen waren. Ihr Aufstieg setzte sich unter dem Stauferkönig Konrad III. weiter fort, der sie 1143 als Reichsministerialen bezeichnete. Die Treue zum staufischen Kaiserhaus machte sich auch Heinrich zu eigen, was für die Zusammenhänge um die Staurothek nicht unwichtig ist. Als er um das Jahr 1175 geboren wurde, stand die Dynastie unter Friedrich Barbarossa in höchster Blüte. Erste Sporen verdiente sich der junge Ulmener vielleicht schon beim zweiten Italienzug Kaiser Heinrichs VI. in den Jahren 1194 und 1195, als dieser das Normannenreich in Sizilien eroberte. Die Mittelmeerwelt hat den Eifler womöglich schon hier in ihren Bann gezogen.

Als Papst Innozenz III. 1198 zum Vierten Kreuzzug rief, folgte Heinrich von Ulmen dem Aufruf, so daß wir ihn zusammen mit anderen Rittern aus dem Rheinland wie Graf Berthold von Katzenelnbogen, Werner von Bolanden, Dieter von Diez und Wirich von Daun 1202 in Venedig finden. Ihr Ziel sollte Kairo sein, das die Kreuzfahrer nicht ohne Hintergedanken „Babylon“ nannten und das das Zentrum der muslimischen Macht darstellte. Es sollte ein Keil zwischen Ägypten und die Levante getrieben werden, um das eigentliche Anliegen des Kreuzzuges zu ermöglichen: die Befreiung der heiligen Stadt Jerusalem, die sich nach der Rückeroberung durch Sultan Saladin 1187 wieder in sarazenischer Hand befand. Doch dazu sollte es nicht kommen.

Vielmehr versank das Unternehmen in einem Sumpf von Wortbrüchen und Intrigen. In Venedig war nämlich nur ein Drittel der geplanten Heeresstärke eingetroffen, etwa 10.000 Mann. Doch die Venezianer verlangten für den Transport die für 33.500 Kämpfer vereinbarte Summe. Gleichzeitig machten sie den auf ihre Einschiffung Wartenden ein heikles Angebot. Venedig würde auf eine sofortige Zahlung des Fahrpreises verzichten, falls das Kreuzzugsheer für die Seerepublik die Stadt Zara an der dalmatinischen Küste erobern würde. Die Kreuzfahrer saßen in einer Zwickmühle. Ein Übergriff auf das christliche Zara war mit ihrem Kreuzzugsgelübde unvereinbar. Andererseits war aber ohne ein Eingehen auf die venezianischen Forderungen ihr ganzes Unternehmen gefährdet. Man gab schließlich nach und tat den Venezianern den Gefallen, freilich nicht, ohne daß ein Teil des Heeres entrüstet die Heimreise antrat. Den anderen brachte ihr Fehltritt vorübergehend die Exkommunikation durch Papst Innozenz III. ein. Doch bald wurden sie einer noch größeren Versuchung ausgesetzt.

Wenige Jahre zuvor war nämlich in Byzanz der Kaiser Isaak II. Angelos durch einen Putsch gestürzt, eingekerkert und geblendet worden. Seinem Sohn, dem Prinzen Alexios Angelos, war jedoch die Flucht gelungen, und er hatte sich zu König Philipp von Schwaben begeben. Diesen Sohn Friedrich Barbarossas hatte die staufische Partei 1198 gegen den Welfen Otto IV. zum Nachfolger des verstorbenen Kaisers Heinrich VI. gewählt. Philipp war mit der byzantinischen Prinzessin Irene verheiratet, einer Tochter des gestürzten Kaisers Isaak. Das staufische Königshaus hatte also ein Interesse daran, in die Verhältnisse am Bosporus einzugreifen und die befreundete Angeloi-Dynastie wieder auf den Thron zu bringen. Im Jahr 1201 hatte Philipp schon dahingehende Gespräche mit einem der Führer des Kreuzzuges, dem italienischen Marchese Bonifaz von Montferrat, aufgenommen. Auch dem Papst signalisierte der Staufer seine Pläne und versuchte, ihn auf seine Seite zu ziehen. Im Jahr 1203 schrieb er nach Rom: „Wenn der allmächtige Herr mir oder meinem Schwager (Prinz Alexios) die Herrschaft über das Reich der Griechen geben sollte, werde ich dafür sorgen, daß sich die Kirche Konstantinopels in gutem Glauben und ohne Hinterlist der römischen Kirche unterstellt.“ Von all dem ahnten die Kreuzfahrer nichts.

Im Winter 1202/03 nun wandte sich Prinz Alexios an die in Zara weilenden Truppen. Wieder wurde ihnen ein verlockendes Angebot gemacht. Der junge Byzantiner bat sie, nach Konstantinopel zu fahren und ihm und seinem Vater wieder zum Kaiserthron zu verhelfen. Zum Dank würden die Angeloi die Schulden der Kreuzfahrer bei Venedig begleichen und dafür sorgen, daß sich die orthodoxe Kirche wieder dem Primat des römischen Papstes unterstellte. Die Meinungen im Heer waren gespalten. Wieder trat ein Teil der Kreuzfahrer unter Protest die Heimreise an, darunter Werner von Bolanden. Die Mehrheit aber, mit ihr Heinrich von Ulmen, stach mit Kurs auf Byzanz in See. Zu einer Weiterfahrt nach Ägypten kam es nicht mehr. Die Flotte erreichte den Bosporus am 23. Juli 1203 und belagerte die Stadt ein erstes Mal. Nachdem der seit dem Putsch von 1195 herrschende Kaiser Alexios III. geflohen war, bestiegen die Angeloi als Isaak II. und Alexios IV. wieder den Kaiserthron. Doch die versprochenen Geldzahlungen wurden nur schleppend und unzureichend entrichtet. Die von dem westlichen Kreuzfahrerheer gestützten Kaiser waren beim byzantinischen Volk verhaßt, und die orthodoxen Kirchenführer weigerten sich vehement, die Oberhoheit des Papstes anzuerkennen. Es kam zu einem Aufstand und einem erneuten Sturz der Angeloi-Kaiser. Daraufhin brach der offene Krieg zwischen den Byzantinern und dem vor den Mauern der Stadt lagernden Kreuzzugssheer aus. Am 12. April 1204 stürmten die Kreuzfahrer die Stadt.

900 Jahre lang hatte Byzanz alle Angreifer – Awaren, Perser, Araber und Bulgaren – abgewehrt. Ausgerechnet ein christliches Heer hatte nun die als uneinnehmbar geltenden Mauern überwunden und zog brandstiftend und plündernd durch die Stadt. Die Hagia Sophia und zahlreiche andere Kirchen und Paläste wurden geschändet und ausgeraubt. Das oströmische Reich teilten die Führer des Kreuzzuges untereinander auf. Venedig sicherte sich wichtige Stützpunkte im östlichen Mittelmeer, die Basis seines Handelsimperiums. Die aus dem Hippodrom von Byzanz entwendeten Pferdestatuen schmücken noch heute als Wahrzeichen des Sieges die Front von San Marco in Venedig. Am 4. Mai 1204 wurde Graf Balduin von Flandern als „Kaiser der Romania“ auf den byzantinischen Thron gewählt. Doch das lateinische Kaiserreich und die vielen kleinen Fürstentümer in Griechenland konnten sich nicht lange halten. Sie gingen in den Kämpfen mit den Türken, Bulgaren und untereinander schnell unter. Dem byzantinischen Reich aber hatte der Vierte Kreuzzug den Todesstoß versetzt. Als es die Griechen 1261 neu gründeten, war es nur noch ein Schatten alter Größe und machtlos gegen das Vordringen der Osmanen. Die Eroberung der Stadt durch Sultan Mehmet II. 1453 markierte den Schlußpunkt der seit 1204 andauernden Agonie. Außerdem hatten der Vierte Kreuzzug und seine Greuel die Spaltung in Ost- und Westkirche endgültig besiegelt.

Die Staurothek, die Heinrich von Ulmen 1208 in seinem Besitz hatte, befand sich zum Zeitpunkt der Plünderung durch die Kreuzfahrer im kaiserlichen Bukoleone-Palast. Diesen nahm der Markgraf Bonifaz von Montferrat in Besitz. Er war einer der Führer des Kreuzzuges, heiratete die Witwe Kaiser Isaaks, Margarethe von Ungarn, und erhob Ansprüche auf den Thron des neu gegründeten lateinischen Kaiserreichs. Der Marchese ließ den Palast streng bewachen, so daß er den Plünderern nicht zugänglich war. Schwer vorstellbar, daß der Ulmener, der zum Heeresteil des Markgrafen gehörte, sich bei dieser Gelegenheit der Staurothek und der zahlreichen anderen Reliquien, die er später nach Deutschland bringen sollte, bemächtigt haben könnte. Nachdem Bonifaz von Montferrat bei der Wahl zum Kaiser der Romania durchgefallen war, zog er sich mit seinen Truppen und den Schätzen aus dem Bukoleone-Palast nach Thessalonike zurück. Heinrich folgte ihm und seinem Hofstaat nach Nordgriechenland. In Thessalonike brachte Margarethe den Sohn Demetrius zur Welt. Doch die Kriegswirren nahmen kein Ende. Am 4. September 1207 fiel Bonifaz im Kampf gegen die Bulgaren. Diese rückten gegen das führerlose Thessalonike vor und drohten, die Stadt einzunehmen.

In dieser Notsituation hat wohl Margarethe, die Witwe des Markgrafen von Montferrat, die Staurothek und andere Reliquien aus dem Schatz ihres Mannes dem Ulmener anvertraut. Er sollte sie nach Deutschland zu König Philipp von Schwaben bringen und den Staufer und seine byzantinische Gemahlin Irene so zum Eingreifen in Thessalonike bewegen. Heinrich war als einfacher Ritter unauffällig genug für diese Mission und als Stauferanhänger auch vertrauenswürdig. Noch im Herbst 1207 brach er aus Griechenland auf. Ob er alleine oder mit einigen Begleitern unterwegs war und welchen Weg er genommen hat, wissen wir nicht. Jedenfalls taucht er zur Jahreswende 1207/08 wieder im Rheinland auf.

Die Zusammensetzung des Reliquienschatzes, den Heinrich mit sich führte, läßt sich aus den Urkunden und chronikalischen Vermerken über die Schenkungen an verschiedene Kirchen und Klöster leicht nachvollziehen. Auch der Zisterzienser und Autor Caesarius von Heisterbach berichtet über Heinrich und seine Reliquien. Da war zunächst die Stubener Staurothek. Sie enthält ein heraus­nehmbares griechisches Kreuz, in das ein Splitter vom Kreuz Christi eingelassen ist. Um das Doppelkreuz herum sind in der Lade kleinere Fächer eingelassen, die weitere Reliquien bergen: Stücke von der Dornenkrone, dem Grabtuch und dem Purpurmantel Jesu, Teile vom Kopftuch und vom Gürtel der Gottesmutter Maria oder Haare vom Haupt Johannes des Täufers. Die Staurothek ist ein herausragendes Zeugnis byzantinischer Goldschmiedekunst des hohen Mittelalters. Der Anblick der Goldplättchen, der eingelassenen Perlen und Edelsteine und der haarfein ausgeführten Emailbildchen wird bei keinem Betrachter seine Wirkung verfehlt haben. Hinzu kam ein Reliquiar vom heiligen Demetrius, dem Schutzpatron der Stadt Thessalonike, was auf eine tatsächliche Herkunft aus dem Schatz des Bonifaz von Montferrat hinweist. Daneben führte Heinrich weitere einzeln gefaßte Partikel vom heiligen Kreuz mit sich sowie die Schädelreliquie des hl. Pantaleon und einen Zahn Johannes des Täufers.

Der Ulmener führte seinen Auftrag aber nicht aus. Die Adressaten, König Philipp und seine Gemahlin Irene, starben kurz hintereinander im Sommer 1208. Doch schon Monate vorher hatte Heinrich einen Teil der Reliquien aus der Hand gegeben. Vielleicht war ihm der Besitz dieser Preziosen zu heikel, der Transport zu König Philipp doch zu gefährlich, oder er wollte die kostbaren Schätze einfach für sich behalten. Abschließend wird sich das Rätsel um Besitznahme und Herausgabe der Reliquien wohl nicht mehr klären lassen. Gut nachvollziehen lassen sich allerdings die Schenkungen, mit denen der Ritter die Stücke an verschiedene geistliche Institutionen verteilte.

Als erstes bedachte er die Benediktinerabtei St. Eucharius/St. Matthias vor den Toren Triers mit einer Kreuzpartikel. Die Mattheiser Mönche ließen in den 1240er Jahren ihre Kreuzreliquie in eine Lade fassen, die der Stubener Staurothek nachgebildet und mit folgender Inschrift versehen wurde: „Im Jahr 1207 nach der Geburt des Herrn brachte Heinrich von Ulmen ein (Stück) Holz vom heiligen Kreuz aus der Stadt Konstantinopel mit und gab diesen Teil des heiligen Holzes der Kirche des heiligen Eucharius.“ Da im alten Trierer Kalender das Jahr mit dem 25. März (Mariä Verkündigung) begann, kann die Schenkung also auch zu Beginn des Jahres 1208 erfolgt sein. Wie sehr die Staurothek im Erzbistum Trier Furore machte, zeigt die Tatasche, daß auch die Benediktiner von St. Peter und Lutwinus in Mettlach um 1220 für ihre Kreuzpartikel, die sie schon lange vor Heinrichs Rückkehr besaßen, eine neue Lade fertigen ließen, die dem Reliquiar aus Byzanz nachempfunden war. Man borgte quasi die Authentizität der Stubener Staurothek, in dem man ihre Gestalt imitierte.

Eine weitere Kreuzpartikel schenkte unser Kreuzfahrer dem Kloster Maria Laach. Eine Inschrift in der Abteikirche feiert ihn daher als „verdienstvollen, hervorragenden Mann“. Bis 1332 stellten die Laacher immer am 24. August ihren Kreuzsplitter zusammen mit anderen Reliquien aus und hielten dabei einen Jahrmarkt ab. Im Laufe der bewegten Geschichte dieser Abtei wurde die Kreuzpartikel mehrfach geteilt und weitergegeben, so daß sich heute Stücke von ihr – außer in Laach selbst – im Kloster St. Hildegard im rheingauischen Eibingen, im Eifelort Spessart und im niederländischen Zwolle befinden.

Das Haupt des heiligen Pantaleon, eines Märtyrers aus Kleinasien, schenkte Heinrich am 11. April 1208 der Kölner Abtei gleichen Namens. Die Mönche besaßen schon zahlreiche weitere Körperteile ihres Patrons, doch über die Schädelreliquie freuten sie sich besonders. Laut einer Kölner Chronik wurde er unter Anteilnahme des ganzen Klerus und Volkes in Empfang genommen und in ein versilbertes und vergoldetes Reliquiar eingelassen. Bei der Übergabe war neben dem Abt von Maria Laach auch der Scholaster Konrad von Münstermaifeld vertreten, der es nicht versäumte, auch für sein Stift eine Kreuzpartikel zu ergattern. Wir haben es hier mit einem eng verwobenen Netz untereinander gut bekannter Kleriker zu tun, die den zurückgekehrten Kreuzfahrer beharrlich und wohl mit sanftem Druck bearbeiteten, so daß er ein Stück nach dem anderen aus der Hand gab.

Von der Übergabe des Zahnes des heiligen Johannes an das Zisterzienserkloster Heisterbach bei Bonn weiß der dort ansässige Mönch Caesarius eine abenteuerliche Wundergeschichte zu erzählen. Heinrich habe den Zahn bei sich auf der Ulmener Burg behalten wollen und sogar mit dem Bau einer Kapelle begonnen. Seine Schwester Irmgard aber, die Oberin im Augustinerinnenkonvent von Stuben war, wollte, daß der Zahn ins Kloster Heisterbach komme, wo ihrer beider Mutter begraben lag. Heinrich zeigte sich jedoch uneinsichtig. Daraufhin habe plötzlich der Pfälzer Ritter Werner von Bolanden Heinrich in Ulmen belagert oder in anderer Weise gefangengesetzt. Heinrich sei gegen Stellung von Geiseln freigekommen, um sich mit seiner Schwester zu beraten. Einer der Stubener Nonnen sei daraufhin im Traum offenbart worden, daß Heinrich erst befreit werden würde, wenn der Zahn des heiligen Johannes ins Tal des heiligen Petrus (Heisterbach) gebracht würde. Heinrich gab unter diesem doppelten Druck nach und stimmte einer Überführung zu. Sobald der Zahn in Heisterbach angekommen war, soll der Ulmener tatsächlich aus der Gefangenschaft freigekommen sein. Der Zahn habe, so Caesarius, auch weiterhin Wunder gewirkt. So habe er bei seinem Transport die Bootsbesatzung auf dem Rhein aus arger Seenot gerettet und einen Gefährten Graf Heinrichs von Sayn von einem Dämon befreit. Was immer von solch frommen Geschichten zu halten sein mag, sie spiegeln jedenfalls die ungemein hohe Wertschätzung von Reliquien bei den mittelalterlichen Christen wider. Von ihnen versprach man sich eine enge, handfeste Beziehung zu Gott und den Heiligen. Wer über wichtige und kostbare Reliquien verfügte, wie Heinrich von Ulmen, war rasch in aller Munde.

Was den Angriff Werners von Bolanden angeht, so war der Pfälzer in Ulmen kein Unbekannter. Die Bolandener besaßen dort als Lehen des Grafen von der Nürburg das Kollationsrecht, das heißt das Recht, den Ulmener Pfarrer einzusetzen, was als Vorwand für das Eingreifen gegen Heinrich und seinen Kapellenbau gedient haben könnte. Werner hatte außerdem zu denjenigen gehört, die 1203 das Kreuzfahrerheer vor Zara verlassen hatten, während Heinrich von Ulmen mit nach Konstantinopel zog. Vielleicht hatten die beiden damals schon Streit miteinander, der übrigens durch die Parteinahme Werners für den welfischen Gegenkönig Otto und die Treue Heinrichs zu den Staufern zusätzliche Nahrung erhielt. Was das eigentliche Ziel des Bolandeners war, legt allerdings das Ereignis nahe, auf das wir schon zu Beginn unserer Geschichte eingegangen sind.

Am 9. August 1208 nämlich schenkte Heinrich von Ulmen sein wertvollstes Stück, die Staurothek, und das Demetrius-Reliquiar dem Kloster Stuben. Nach dem Angriff Werners von Bolanden, der vermutlich auf die Erbeutung der Staurothek abzielte, erschien Heinrich seine Burg wohl nicht mehr sicher genug. In Stuben bei seiner Schwester, Oberin Irmgard, war der Schatz aber in würdigen, geistlichen Händen und blieb trotzdem in der Familie. In der Schenkungsurkunde verfügte Heinrich außerdem, dem Kloster jährlich aus dem Ulmener Besitz in St. Aldegund an der Mosel unweit von Stuben ein halbes Fuder Wein zu schenken. Zum Andenken an ihn und seine Ehefrau, aber auch, damit die Augustinerinnen nicht in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, die sie zum Veräußern der Staurothek zwingen könnten. Die Schenkungsurkunde weist allerdings einige Merkwürdigkeiten auf. Sie ist nur zur Hälfte beschrieben und der Text bricht mitten im Satz ab. Dennoch ist sie an beiden Enden von Heinrich und seinem Bruder Sibert besiegelt. Hier liegt ein unvollendeter Chirograph vor, das heißt, man wollte die Urkunde wohl doppelt ausstellen und dann in der Mitte auseinanderschneiden, um beiden Vertragsparteien eine Hälfte auszuhändigen. Die Besiegelung der unfertigen Urkunde stellt aber sozusagen einen Blankoscheck dar, da man auf die freien Flächen einen beliebigen Text hätte ergänzen können. Was sich genau hinter diesem Befund verbirgt, wird wohl nie geklärt werden können. Ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, warum Heinrich seinen Überbringerauftrag letztlich nicht ausgeführt hat und die Fürstin Margarthe und ihr Sohn Demetrius in Thessalonike nach ihrer unerwarteten Rettung vor den Bulgaren die Schätze nicht zurückforderten.

Heinrich von Ulmen stand zu Hause in der Blüte seines Ansehens. 1215 war er bei der Krönung König Friedrichs II. von Hohenstaufen in Aachen anwesend und trat sogar in einer Königsurkunde als Zeuge auf. Vielleicht waren es Gewissensbisse, die Heinrich dazu veranlaßten, zwei Jahre später wieder das Kreuz zu nehmen und für die Vergehen der Kreuzfahrer in Konstantinopel zu büßen. Im Juli 1217 brach er mit weiteren Rittern aus dem Rheinland von den Niederlanden aus in See. Nach einjähriger Überfahrt und Kämpfen in Portugal erreichte die Flotte zunächst Akkon, den Hafen der Kreuzfahrer im Heiligen Land. Doch die Führer des Fünften Kreuzzuges (1217–1221) entschieden, die Sarazenen dort anzugreifen, wo sie ihnen am verwundbarsten erschienen, in Ägypten. Von Palästina aus stach die Flotte erneut in See und belagerte die Hafenstadt Damiette an der Nilmündung. Hier geriet Heinrich von Ulmen, wie eine Kölner Chronik berichtet, am 29. August 1219 zusammen mit einem Teil des Kreuzfahrerheeres in sarazenische Gefangenschaft. Caesarius von Heisterbach, der nie um eine Wundergeschichte verlegen ist, weiß auch hierzu eine solche zu berichten. Ein muslimischer Jüngling sei durch die Taufe durch den gefangenen Bischof von Beauvais von einer hoffnungslosen Krankheit geheilt worden. Dies habe Heinrich von Ulmen in Kairo miterlebt und glaubhaft berichtet. Das gesamte Kreuzzugsunternehmen geriet aber zum Fiasko. 1221 wurden die Christen bei Mansura im Nildelta vernichtend geschlagen. Viele ertranken, als die Ägypter die Schleusen öffneten. Den Überlebenden wurde aber freier Abzug gewährt. Auch Heinrich von Ulmen und die übrigen kehrten aus der Gefangenschaft zurück. Somit war der zweite Kreuzzug Heinrichs ebenso kläglich fehlgeschlagen.

Im Jahr 1234 erscheint der Ulmener zum letzten Mal anläßlich einer Schenkung seines Sohnes Theoderich, der Domherr in Trier war, in den Quellen. Kurz danach ist er vermutlich gestorben. Für einen niederadligen Ritter aus dem kleinen Eifelort Ulmen hatte er es weit gebracht. Mehr als andere Zeitgenossen seines Standes findet er aufgrund seiner Reliquienschenkungen in Urkunden und Chroniken der rheinischen Kirchen und Klöstern anerkennende Erwähnung. Caesarius von Heisterbach hat ihm in seinen Wundergeschichten ein kleines Denkmal gesetzt. Seine Teilnahme an zwei Kreuzzügen führte ihn nach Italien, Byzanz, Griechenland, Portugal, Palästina und Ägypten. Vielleicht mußte Heinrich von Ulmen sein Leben aber dennoch als gescheitert betrachten. Denn die heilige Stadt Jerusalem, die zu befreien er als junger Kreuzfahrer angetreten war, hat er nie betreten.

Literaturhinweise
  • Henze, Ulrich: Die Kreuzreliquiare von Trier und Mettlach. Studien zur Beziehung zwischen Bild und Heiltum in der rheinischen Schatzkunst des frühen 13. Jahrhunderts. Münster 1988.
  • Klein, Holger A.: Aspekte zur Byzanzrezeption im Abendland. In: Byzanz. Die Macht der Bilder. Katalog zur Ausstellung im Dom-Museum Hildesheim. Hg. v. Michael Brandt und Arne Effenberger. Hildesheim 1998, S. 122–153.
  • Kreutz, Bernhard: Ulmen im Mittelalter. In: Chonik Ulmen, hg. v. der Ortsgemeinde Ulmen 2000, S. 81–117.
  • Kuhn, Hans-Wolfgang: Heinrich von Ulmen, der vierte Kreuzzug und die Limburger Staurothek. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 10, 1984, S. 67–105.