Clemens, Christoph Philipp Nell

Porträt einer europäischen Kernregion. Der Rhein-Maas-Raum in historischen Lebensbildern, hrsg. v. Franz Irsigler & Gisela Minn, Trier 2005. [zurück zur Übersicht]

Christoph Philipp Nell (1753–1825).

Vom rheinischen Holzhändler zum Notabeln des Grand Empire

von Gabriele B. Clemens

Am 14. Juli 1753 kam Christoph Philipp Nell in Trier als zweiter Sohn des Kaufmanns und Ratsschöffen Johann Peter Job Nell und seiner Frau Maria Anna Rosa Hitzler zur Welt. Von diesem Sohn einer der vermögendsten Familien der Moselstadt sind keine autobiographischen Quellen überliefert, aber anhand zahlreicher Hinweise aus offiziellen Dokumenten läßt sich sein spannungsreicher Lebensweg nachzeichnen. Geboren in der letzten Phase des Ancien Régimes, erlebte er die zwanzigjährige französische Herrschaft im Linksrheinischen – sein Geburtstag war nun zugleich der Gedenktag an den Sturm auf die Bastille – und vor seinem Tod im Jahr 1825 war er mit Auszeichnungen und Ehrungen von Seiten der preußischen Regierung bedacht worden. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte seine Heimatstadt wohl kaum zu den boomenden Städten des Rheinlandes. Sie litt unter ihrer politischen Randlage und unter dem Verlust ihrer Funktionen als Residenzstadt, da sich der Kurfürst des Erzbistums Trier fast nur noch in seinen prächtigen Barockbauten in Koblenz und Ehrenbreitstein aufhielt. Neue wirtschaftliche Impulse fehlten der Stadt und ihre Bürger lebten vom Handwerk und vom Handel mit Wein, Getreide und Holz. Große Teile der Bevölkerung waren sehr arm. Trier bot wie andere europäische Städte in diesem Zeitraum das Bild einer Zwei-Drittel-Gesellschaft, wie wir es heute für Teile der sogenannten „Dritte Welt“ kennen. Über 60 Prozent der Einwohner mußte um ihre Subsistenz kämpfen oder betteln. Eine schmale Oberschicht war hingegen sehr vermögend und hob sich noch einmal deutlich vom Mittelstand ab. Blieb auch die Masse der Bevölkerung arm und überwogen die Kräfte der Beharrung im wirtschaftlichen Sektor, so sind doch auf der anderen Seite die Zeichen für die Vermehrung des bürgerlichen und adligen Reichtums nicht zu übersehen. Jedoch beschränkten sich diese positiven Elemente auf wenige Familien. Zu ihnen gehörte die Holzhändlerfamilie Nell.

Stammsitz der Familie war im beginnenden 17. und 18. Jahrhundert der kleine Ort Neuendorf bei Koblenz, von hier aus begann sie ihr äußerst erfolgreiches Holzexportgeschäft. War der Wein seit dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit der wichtigste Exportartikel im Rheinland, so entwickelte sich der Holzhandel seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem äußerst lukrativen Geschäft, in dem man mit einigem Geschick sehr rasch hohe Profite erzielen konnte. Holland wich in diesem Zeitraum aufgrund der englischen und französischen Konkurrenz auf den nord- und osteuropäischen Holzmärkten in die deutschen Mittelgebirgsregionen aus und bezog nun die für seinen Schiffs- und Häuserbau in großer Zahl notwendigen Eichenhölzer aus Schwarzwald, Taunus, Hunsrück und Eifel. Wer im großen Stil an diesem sogenannten „Holländerholzhandel“ teilhaben wollte, mußte über eine gute Kapitalausstattung verfügen, denn die notwendigen Investitionen waren sehr hoch. Die wertvollen Hölzer mußten gekauft werden, und wurden dann zu riesigen Flößen zusammengebunden, auf denen die Kaufleute sowie ihre Bediensteten ihre Wohnzelte aufbauen konnten und so ihre Ware persönlich über das Flußsystem nach Holland begleiteten. Hinzu kamen die hohen Zollkosten auf dem Weg zur Rheinmündung. Die über 100 Meter langen Flöße wurden zudem für den Weinexport als kostenlose Transportmöglichkeit genutzt, bevor sie an ihrem Bestimmungsort wieder aufgelöst wurden. Die Familie Nell betrieb zunächst den Holzhandel als Familienunternehmen, um sich dann im 18. Jahrhundert zunehmend mit anderen Geschäftspartnern zu assoziieren. Der Firmengründer Peter Christian Nell wurde 1709 für seine überragenden geschäftlichen Erfolge vom Kurfürsten nobilitiert. Einer seiner Enkel, Johann Peter Job Nell, baute erfolgreich eine Filiale in Trier auf und vererbte das Geschäft wiederum an seinen Sohn Christoph Philipp Nell.

Über dessen Kindheit und Jugend wissen wir nichts. Wenn er nicht ausschließlich von Hauslehrern unterrichtet worden ist, dürfte er das Trierer Jesuitengymnasium besucht haben. Nachweisbar ist auf jeden Fall sein Studium an der Universität seiner Heimatstadt, was für einen Kaufmannssohn eher ungewöhnlich war. So gab es zum einen ohnehin um 1800 nur 6.000 Studenten in Deutschland, eine Zahl die 0,3 pro mille der Bevölkerung entsprach. Zum anderen erhielten die Kaufmannssöhne in der Regel ihre Ausbildung entweder im eigenen Betrieb oder bei Geschäftspartnern, da die an einer Universität angebotenen Studiengänge wenig vermittelten, was ein Kaufmann für eine erfolgreiche Geschäftsführung lernen mußte. Folglich darf man der Familie doch ein überdurchschnittliches Bildungsinteresse attestieren. Als der Vater Christoph Philipps 1777 starb, übernahm zunächst die Witwe das Geschäft. Erst nach ihrem Tod fünf Jahre später wurde der Zweitgeborene mit der Leitung des Familienunternehmens betraut. Die wäre eigentlich an den ersten Sohn übergegangen, da sich der Bruder aber bereits für eine Karriere als Geistlicher entschieden hatte – er verfügte über die einträglichen Pfründe als Kanoniker des Trierer Vorstadtstiftes St. Paulin – war der Weg frei für Christoph Philipp. Seine beiden Geschwister Anna Catherina und Johann Nikolaus, der Stiftskanonikus, bestanden nicht auf der Erbteilung beziehungsweise die Auszahlung ihres Anteils, sondern ließen ihren Erbteil weiterhin in der Firma. Sie gründeten eine gemeinsame Handelsgesellschaft und setzten ihren Bruder Christoph Philipp als „Hauptmann“ ein. Dieser organisierte weiterhin den äußerst lukrativen Holzhandel, die Geschwister partizipierten als Teilhaber an den zukünftigen Gewinnen. Eine Erbteilung hätte hingegen das Ende des Geschäfts bedeuten können und wurde daher in der Familie seit Generationen vermieden.

Im Todesjahr seines Vaters hatte Christoph Philipp die Tochter des Hofkammerrats und Spiegelfabrikanten Georg Friedrich Lindt, Katharina, aus Frankfurt geheiratet. Die Braut war mit einer ansehnlichen Mitgift in Höhe von 5.000 Gulden ausgestattet. 1799 erbte sie weitere 67.000 Reichtstaler. Aber Nell muß schon vor seiner Heirat zu den reichsten Bürgern Triers gehört haben. In seinen gesellschaftlichen Kreisen wurde streng darauf geachtet, daß beide Partner in etwa die selben Vermögenswerte mit in die Ehe brachten, was überlieferte Eheverträge belegen. Insgesamt verweisen derartige Summen auf ein beträchtliches Familienstammkapital. Auch die Kinderzahl des jungen Paares blieb wie die Geschwisterzahl Christoph Philipps eher gering für diese Zeit. Dahinter stand wohl das Kalkül, daß eine zu hohe Zahl von Nachkommen den Fortbestand bzw. das Kapital der Firma beeinträchtigen könnte. Dieses Verhalten war nicht ohne Risiko, da viele das Erwachsenenalter aufgrund der hohen Kindersterblichkeit nicht erreichten. 1777 wurde Rosa geboren, zwei Jahre später der Stammhalter Georg Friedrich Job und 1785 schließlich Elisabeth. Beide Töchter heirateten später hohe preußische Beamten. Der einzige Sohn übernahm wiederum das Handelshaus. Auch bei seinen Kindern achtete Christoph Philipp Nell auf eine gute Ausbildung. Von 1788 bis 1794 war Johann Hugo Wyttenbach Hauslehrer bei den Nells, er galt in dieser Zeit als einer der führenden Vertreter der Aufklärung in Trier, später während der Franzosenzeit war er der erste Trierer Stadtbibliothekar.

Bereits mit 24 Jahren (1777) wurde Nell zum Amtsmeister und Schöffen gewählt. Sein politisches Engagement wurde zu Beginn der 1790er Jahre durch die kriegerischen Ereignisse im Zuge der Revolutionskriege zunächst kurzfristig unterbrochen. Als im Jahr 1789 die Französische Revolution ausbrach, blieb es auch in Trier nicht ruhig, so erschienen etwa im August Maueranschläge und Pamphlete. Mit Verweis auf den „freien Bürgerstaat“, den Paris eingerichtet habe, wurde zum Widerstand gegen den Kurfürsten und seine Beamten aufgerufen. Ohnehin kam es im Sommer 1789 in zahlreichen rheinischen Städten zu Protesten, meist ausgelöst von zunftbürgerlichen Gruppen. Danach kehrte wieder Ruhe ein, und erst durch die österreichisch-preußische Kriegserklärung wurden die Rheinlande direkt in das politische Geschehen involviert. Preußen hatte nämlich erwartet, leichte Beute zu machen, als es sich Österreich nach der im April erfolgten Kriegserklärung durch die französische Nationalversammlung als Koalitionspartner anschloß. Im September 1792 zerbrach diese Illusion, nach dem erfolglosen Versuch der Koalitionstruppen in Ostfrankreich einzumarschieren und der Niederlage von Valmy. Das alte fürstliche Europa und die beiden damals angeblich besten Armeen schienen nichts gegen den Geist der Revolution ausrichten zu können. Auf jeden Fall kamen sie nicht gegen den Schwung und den Idealismus der Revolutionstruppen an. Mit Leichtigkeit eroberte General Custine im Gegenzug das linke Rheinufer, das ab 1794 dann für zwanzig Jahre unter französischer Herrschaft bleiben sollte.

In den ersten Jahren nach der Besetzung des Linksrheinischen wechselten sich in rascher Folge häufig rivalisierende militärische und zivile Verwaltungsorganisationen ab. Die Bevölkerung litt unter den hohen Kontributionen. Die Verwirklichung französischer Parolen wie „Liberté, Egalité, Fraternité“ oder „Krieg den Palästen und Friede den Hütten“ ließen auf sich warten. Christoph Philipp Nell flüchtete mit seiner Familie zunächst vor den anrückenden Franzosen nach Frankfurt, kehrte aber bereits 1795 wieder zurück. Im Herbst dieses Jahres wurde er mit anderen vermögenden Trierer Bürgern als Geisel genommen, um Kontributionsforderungen Nachdruck zu verleihen. Diese gewiß nicht erfreulichen Erfahrungen während der ersten Jahre der französischen Militärherrschaft haben ihn anscheinend nicht in grundsätzliche Opposition gegenüber den neuen Machthabern gebracht. Diese Haltung, nämlich sich zunehmend mit der neuen Herrschaft abzufinden, sie allmählich zu akzeptieren und sogar zu kooperieren, stellte durchaus keinen Einzelfall dar. Nationales Bewußtsein war der Majorität der Bevölkerung damals noch völlig fremd und erst die Geschichtsschreibung der nachfranzösischen Zeit wurde nicht müde, die Jahre von 1794–1814 als Epoche einer verhaßten Fremdherrschaft darzustellen. So wurden jahrzehntelang über zahlreiche von den Franzosen durchgeführte Reformen und Maßnahmen hartnäckig Vorurteile und Halbwahrheiten tradiert, die bis zum heutigen Tag nachwirken.

Als die Herrschaft sich zunehmend konsolidierte und rechtsstaatlichen Charakter annahm, gehörte Nell zu denjenigen, die in der Politik, der Wirtschaft und im geselligen Leben zu den führenden Männern der Region aufstiegen. Nachdem Österreich im Frieden von Campo Formio im Oktober 1797 alle linksrheinischen Gebiete in Geheimartikeln abtrat, begann der Neuaufbau der Verwaltung nach französischem Muster. 1798 wurde das Territorium in vier Departements unterteilt. Es entstanden im Norden das Rur-Departement mit der Hauptstadt Aachen, das Rhein-Mosel-Departement entlang der Rheingrenze mit der Hauptstadt Koblenz, das Saar-Departement im Südwesten mit Trier als Regierungssitz sowie das südlich angrenzende Donnersberg-Departement mit Mainz als Verwaltungszentrum. Trier bekam nun wieder wichtige Verwaltungsfunktionen als zentraler Verwaltungsort und Gerichtssitz zugewiesen, was sich nachhaltig auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben auswirken sollte. Von grundlegender Bedeutung für die neuen linksrheinischen Departements war die ebenfalls ab 1798 erfolgte Neuorganisation des Justiz- und Verwaltungswesens: Sie umfaßte die Übernahme der französischen Gerichtsordnung, die öffentliche und mündliche Verfahren sowie die Gleichheit aller vor Gericht vorsah, ferner die Gewerbefreiheit, die Abschaffung der Feudalrechte und damit einhergehend die Aufhebung der Zehnten. Man kann das Jahr „1798“ für das Rheinland als Epochenjahr bezeichnen, da umwälzende Reformen Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen bedingten und Neues an die Stelle überkommener Traditionen gesetzt wurde. Erst diese radikale Beseitigung veralteter Privilegien, verbunden mit der rechtlichen Gleichstellung aller Bürger und der Einführung eines den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft gewachsenen Rechtssystems bildeten gemeinsam mit der Gewerbefreiheit wesentliche Voraussetzungen für die weitere Entwicklung des Rheinlandes.

Christoph Philipp Nell war an diesen Prozessen der Umgestaltung in einem entscheidenden Maße beteiligt. Da wäre zunächst die politische Sphäre, in der er sowohl auf kommunaler, regionaler und auch nationaler Ebene wichtige Funktionen übernahm. Bereits im Jahr 1795 wurde er zum Mitglied in der von den Franzosen eingesetzten Bezirksverwaltung ernannt, die wichtige regionale Verwaltungsaufgaben übernahm. Des weiteren saß Nell in der Munizipalverwaltung Triers, die zunächst das traditionelle Gremium des Stadtrats wie überall in den rheinischen Städten ablöste. Nach 1800 wurden jedoch wiederum die Munizipalitäten abgeschafft und erneut Stadträte installiert, allein der Wahlmodus war nun weniger hierarchisch und demokratischer als während des Ancien Régimes. Auch im neuen Stadtrat war Nell neben weiteren führenden Kaufleuten und hohen Beamten ständig vertreten. Nach dem Staatsstreich Napoleons vom 18. Brumaire (9.11.1799) änderten sich die Bedingungen für die politische Mitbestimmung grundlegend. Bislang gerne gesehene spontane pro-französische Kundgebungen und demokratische Klubs waren nicht mehr erwünscht. Statt dessen versuchte Napoleon, eine auf ihn ausgerichtete Führungsschicht – die aus den sogenannten Notabeln bestehen sollte – zu etablieren und sie durch Privilegien und Auszeichnungen an sich zu binden, um derart seine Herrschaft zu konsolidieren. Dabei war die politische Mitwirkung in erster Linie an Besitz, aber auch an persönlichen Verdienst und Loyalität gegenüber dem ersten Konsul und späteren Kaiser gebunden. So setzte sich diese neu geschaffene Führungselite in erster Linie aus Großgrundbesitzern und -kaufleuten, hohen Beamten und Militärs zusammen.

Auf jeder Verwaltungsebene gab es Mitbestimmungsgremien, die jeweils nur aus dieser Notablengruppe gewählt werden konnten. Deren Namen waren den amtlichen geführten Höchstbesteuertenlisten zu entnehmen. Nell war auch in diesen regionalen und nationalen Räten an prominenter Stelle vertreten. Er saß im Generalrat des Departements und stand dieser Vertretung sogar als Präsident vor. War schon die Mitgliedschaft im Stadtrat nur ausgewählten Notabeln vorbehalten, so finden wir in den Gremien auf Departementsebene die absolute Elite der Region. Der Generalrat umfaßte 16 Mitglieder und entschied über die Erhebung der Steuern innerhalb des Departements. Des weiteren oblag es ihm, über die Zustände und Bedürfnisse des Departements zu berichten. Die größte Auszeichnung bedeutete aber für Nell seine Wahl in den französischen „Corps législatif“, der nationalen gesetzgebenden Versammlung in Paris (1804–1814). Doch damit nicht genug: darüber hinaus war er noch Mitglied des städtischen Wohltätigkeitskommission, auch dies ein ausschließlich aus Honoratioren bestehender Ausschuß, dem es oblag, die städtische Armenfürsorge zu organisieren.

Wie sehr sein politisches Engagement geschätzt wurde, mag man daran ablesen, daß er 1804 zum Obersten der Trierer Ehrengarde anläßlich eines Besuchs von Napoleon ernannt wurde. Der Stadtrat hatte beschlossen, eine Ehrengarde aus jungen Männern der Stadt zu bilden, die wiederum den angesehensten Familien entstammten. Sie war 60 Mann stark und wurde ausgestattet mit einer scharlachfarbenen Uniform bestehend aus schwarzem Kragen und Aufschlägen, goldenen Kontre-Epauletten, weißen Westen und Hosen sowie Husarenstiefeln. Damit diese Truppe auch den entsprechenden Eindruck auf den Kaiser machte, übernahmen der kommandierende General des Departements, Desenfans, und die Offiziere des 12. Regiments die Aufgabe, die Ehrengarde in die Waffen und militärischer Haltung einzuüben.

Aber nicht nur im politischen Bereich war Nells Engagement überdurchschnittlich, auch im kulturellen Leben seiner Stadt spielte er eine herausragende Rolle. Eine Möglichkeit, kulturelle und gesellige Bedürfnisse zu befriedigen, bildeten die damals entstehenden Gesellschaften und Vereine. Seit dem 18. Jahrhundert kam es in Europa, angeregt durch die Philosophie der Aufklärung und die Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums zu ersten Vereinsgründungen. In den neuen Assoziationen begegneten sich Personen verschiedener Stände mit dem Ziel, dem Gemeinwohl zu dienen, die Künste zu fördern und/oder der Wissenschaft zu dienen. Die ständische Abgrenzung wurde jedoch durch Bildungs- und Besitzdifferenzierung ersetzt, so daß sich – trotz aller hehren Ansprüche, für alle offen zu sein – dort doch nur die städtischen Eliten trafen. In Trier gab es zu Lebzeiten Nells eine Freimaurerloge, eine Lesegesellschaft, die „Gesellschaft für nützliche Forschungen“, eine Theatergesellschaft und das Kasino.

Die Lesegesellschaft existierte bereits während des Ancien Régimes; sie wurde jedoch 1793 durch Erzbischof Clemenz Wenzeslaus als Reaktion auf die revolutionären Unruhen in Frankreich aufgelöst. 1799 kam es zur Neugründung eines „Lesekabinetts“. Zu den Initiatoren zählten neben französischen Beamten die Trierer Christoph Philipp Nell, Johann Hugo Wyttenbach und Bernhard Seyppel. Eine weitere elitäre Gruppierung bildete auch die Gesellschaft für nützliche Forschungen, die sich naturwissenschaftlichen und historischen Forschungen widmete. Nell gehörte zu den wenigen Kaufleuten, die Aufnahme in diese Gesellschaft fanden. Da in dieser Vereinigung Bildung höher veranschlagt wurde als Besitz, dürfen wir diese Mitgliedschaft wiederum als Indiz für Nells überdurchschnittliche wissenschaftliche und/oder intellektuelle Interessen werten. In diese Richtung weist des weiteren sein Engagement für das sich im Aufbau befindliche Trierer Theater. Hier begegnet uns Nell als Mäzen. 1811 ersteigerte er auf den Nationalgüterauktionen das als Theater dienende Kapuzinerkloster und schenkte es der Stadt. Zudem gehörte Nell zu der kleinen Gruppe von Trierer Bürgern, die sich für den Erhalt des städtischen Theaters finanziell und ideell einsetzten, in dem sie eine Aktiengesellschaft gründeten. Im Jahr 1816 spielte man dort dann unter anderem Kotzebue, Schiller und Shakespeare. Dem Engagement war jedoch kein dauerhafter Erfolg beschieden, das Theater machte bankrott.

Ebenfalls Mitglied des städtischen Kasinos, wo sich die Notabeln zum exklusiven geselligen Vergnügen trafen, verwundert es schon fast, daß Nell nicht der örtlichen Freimaurerloge angehörte. Die Loge war 1805 von führenden Trierer Kaufleuten und wiederum Beamten ins Leben gerufen worden und gerade der Nachweis etwa von Kölner Kaufleuten auf den Besucherliste der „Réunion des Amis de l’Humanité“ deutet darauf hin, daß auch die Trierer Loge eine von Kaufleuten gern genutzte Möglichkeit der geschäftlichen Kontaktaufnahme bot. Nells gesellschaftliche Reputation hätte ihm die Aufnahme in die Loge auch zweifelsfrei möglich gemacht. Vielleicht war es sein Glaube, der ihn davon abhielt, in eine Loge einzutreten. Von der katholischen Kirche waren Freimaurerlogen stets mit Argwohn beobachtet und wenn möglich, auch verboten worden. Ein Dorn im Auge waren für sie die mystischen Sitzungen mit ihren Diskussionen über humanitäre Ethik, persönliche und religiöse Toleranz sowie Selbstkritik. Zudem galten sie zumindest eine Zeit lang als „Revoluzzerkreise“, die geschützt durch das Prinzip der Geheimhaltung den politischen Umsturz planten.

Inwieweit sich Christoph Philipp Nell zu Hause mit Kunstgegenständen umgab, können wir einem Verzeichnis der ihm gehörenden Kunstwerke entnehmen. Man kann seine aus über 80 Bildern bestehende Sammlung schon als kleine Galerie bezeichnen. Darunter befanden sich zahlreiche alte holländische Meister, wobei sich natürlich der Verdacht aufdrängt, daß diese während der Aufenthalte Nells und seiner Vorgänger in Holland, beim Abwickeln des Holzhandels, in den Besitz der Familie gelangten.

Womit wir wieder beim wirtschaftlichen Aspekt von Nells Leben angekommen sind. Derart zeitraubende Aktivitäten in der Politik und im kulturellen Bereich kann nur derjenige übernehmen, der über ein entsprechendes Einkommen verfügte. Der Holzhandel Nells dürfte in der französischen Zeit aufgrund der sich verschiebenden Zollgrenzen und der Kontinentalsperre auf größere Schwierigkeiten gestoßen sein. Hinzu kam, daß der Holländerholzhandel für Lieferungen von Kriegsmaterial untersagt wurde. Dies dürfte aber zumindest zum Teil durch Nells Holzlieferungen für die französische Marine kompensiert worden sein. Nell engagierte sich nun neben dem Holzhandel zunehmend in neuen Märkten. Er wurde Bankier und investierte darüber hinaus große Summen in Grund und Boden bei den Versteigerungen der sogenannten Nationalgüter.

Als Nationalgüter bezeichnet man die zunächst sequestrierten und schließlich enteigneten Güter der geistlichen Institutionen und des reichsständischen Adels. Es handelte es sich dabei jedoch nicht um eine von den Revolutionären erstmals durchgeführte Maßnahme, im Verlaufe der Geschichte hatten Herrscher immer wieder Kirchengut enteignet. Außergewöhnlicher war es da schon eher, daß die Güter der Allgemeinheit zum Kauf angeboten wurden. Diese Auktionen in den linksrheinischen Departements verursachten eine Vermögensumschichtung in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß. Die französische Regierung bot in nur zehn Jahren (1803–1813) mehr als 17.000 Immobilien an und erzielte dabei eine Summe von über 67 Millionen Francs. Um diese Summe besser gewichten zu können, sei erwähnt, daß ein Tagelöhner damals einen Franc am Tag verdiente und ein Richter am Ersten Instanzgericht über ein Jahresgehalt von 2.000 Francs verfügte.

Der Staat verfolgte dabei rein fiskalische Ziele. Breite Bevölkerungskreise waren von vornherein so gut wie ausgeschlossen, da die angebotenen Güter sehr teuer waren und in nur vier Jahren bezahlt werden mußten. Weitere Hindernisse stellten die vielfach weite Anreise und die französische Amtssprache dar, so daß sich bei den Versteigerungen in erster Linie das vermögende städtische Bürgertum engagierte, unter ihnen wiederum Christoph Philipp Nell.

Im Saar-Departement steht er an zweiter Stelle der umsatzstärksten Käufer. Übertroffen wurde er nur von Matthias Joseph Hayn, der für über 500.000 Francs Nationalgüter erwarb. Nell brachte es hingegen „nur“ auf einen Kapitaleinsatz von 204.000 Francs. Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Situation jedoch anders dar. Während Hayn viele Güter nur spekulativ ersteigerte, um sie entweder gewinnbringend weiterzuveräußern oder – wenn ihm dies nicht gelang – die Immobilien wieder an den Staat zurückzugeben, hat Nell alle Grundstücke sofort mit langfristigen Investitionsabsichten ersteigert. Hayn war nämlich letztendlich nur in der Lage, Güter im Wert von 370.000 Francs zu bezahlen und hat zudem Objekte im Einkaufswert von 140.000 Francs weiterverkauft. Wenn man dies bedenkt, unterscheiden sich die Investitionen der beiden nur noch unwesentlich. Darüber hinaus haben beide weitere Nationalgüter von Napoleons Armeelieferanten gekauft. Hayn für 190.000 Francs, Nell für 130.000 Francs. Das riesige Immobilienangebot auf der Trierer Präfektur vermochte ihren Landhunger allem Anschein nach nicht zu befriedigen. Sie erwarben diese sehr wertvollen Güter von Heereslieferanten, die Napoleon 1805 diesen anstatt Bargeld überlassen hatte, um so seine Schulden zu kompensieren. Gemäß kaiserlicher Dekrete erhielten sie Immobilien im Wert von über 20.000 Millionen Francs, die alle in den rheinischen sowie im luxemburgischen und einem belgischen Departement gelegen waren. Dabei handelte es sich meist um große Hofgüter. Die Armeelieferanten wiederum hatten selbstverständlich kein Interesse daran, im äußersten Osten Frankreichs derart beträchtliche Summen langfristig in Grund und Boden zu binden und veräußerten die Güter rasch weiter.

Nell konzentrierte sich bei seinen Käufen auf wertvolle, große Anwesen in der näheren Umgebung Triers, die er systematisch modernisierte. Das bekannteste Beispiel stellt der Erwerb der Abtei St. Matthias für 91.000 Francs im Jahr 1803 dar, die er in ein landwirtschaftliches Mustergut verwandelte. Christoph Philipp Nell war somit einer jener Unternehmer, die mittels beträchtlicher Produktions- und Produktivitätssteigerungen, ökonomischen und technischen Innovationen, vor allem in den Bereichen Viehzucht und Anbaumethoden, große Fortschritte erzielten. Diese grundsätzliche Offenheit für neue Produktions- und Verarbeitungsmethoden belegt auch sein finanzielles Engagement für die erste Trierer Zuckerfabrik von Jakob Christan Schmeltzer. Das Experiment scheiterte jedoch zum einen am mangelnden Know-How, so wurde etwa anfangs die falsche Rübensorte zerkocht, und war zum anderen nach der Aufhebung der Kontinentalsperre 1814 völlig unrentabel geworden, da nun wieder der englische Rohrzucker den Markt überschwemmte.

Damit zeichnete sich auch schon das Ende der Franzosenzeit ab. Im Jahr 1812 marschierte die „Grande Armée“ Napoleons nach Rußland ein, das aus wirtschaftlichen Gründen die Kontinentalsperre durchbrochen hatte. Doch auch nach der Eroberung Moskaus willigte Rußland nicht in den Frieden ein, woraufhin sich Napoleons Truppen wegen des harten Winters und logistischer Schwierigkeiten zurückziehen mußten und dabei völlig aufgerieben wurden. Die alliierten Truppen – bestehend aus Österreichern, Russen und Preußen – konnten die französischen Einheiten über den Rhein zurückdrängen und im Januar 1814 marschierten preußische Truppen nach Trier. Auf dem Wiener Kongreß wurden die linksrheinischen Gebiete größtenteils Preußen zugeschlagen. Trier geriet wieder in eine für seine Wirtschaft ungünstige Grenzlage. Für Christoph Philipp Nell war es der dritte Herrschaftswechsel in seinem Leben, doch wie den meisten Vertretern der rheinischen Oberschichten schien ihm auch der erneute Wechsel keine sonderlichen Probleme zu bereiten.

War er schon während der französischen Zeit ausgezeichnet worden, so erfuhr die große Wertschätzung seiner Person unter der preußischen Regierung ihre Fortsetzung. Für sein wirtschaftliches Handeln wurde er mit dem Kommerzienratstitel geehrt. Dieser von preußischen Unternehmern sehr begehrte Titel wurde nach ausführlichen Nachprüfungen vergeben und stellte eine Art staatliches Gütezeichen dar. Die Auszeichnung brachte hohe Anerkennung, da sie lediglich eine kleine Unternehmergruppe aus der Menge der Geschäftsleute hervorhob. Neben der Dokumentation des außergewöhnlichen wirtschaftlichen Erfolges war mit der Verleihung die persönliche Einladung am Hof verbunden. Obwohl Nell also durchaus dem Typ des modernen Kaufmanns zuzuordnen ist, läßt sich seine Affinität zum Adel nicht übersehen. Schon in französischer Zeit hatte er Anträge gestellt, damit seiner Familie ein Adelstitel verliehen würde. Aber erst in preußischer Zeit war ihm diesbezüglich Erfolg beschieden. 1824 erwarb die Familie den preußischen Adel und wurde fünf Jahre später in die Adelsmatrikel aufgenommen.

Als unser Protagonist 1825 im Alter von 72 Jahren starb, durfte er wohl mit Stolz auf sein Leben zurückblicken, in dem er hohe gesellschaftliche Anerkennung erfahren hatte und ihn politischer Einfluß und wirtschaftlicher Erfolg als einer der ersten Notabeln seiner Region auszeichneten. Er ließ sein Haus wohl bestallt zurück. Seine jüngste Tochter hatte 1819 den Trierer Bürgermeister Wilhelm Haw geheiratet. Die ältere lebte in Berlin als Gattin des Wirklichen Geheimen Rats Ambrosius Eichhorn. Sein einziger Sohn übernahm das Handelshaus. Er profilierte sich als Holz- und Weingroßhändler sowie als Bankier; 1839 gehörte er zu den Mitbegründern der Dampfschiffahrtsgesellschaft. Als Politiker trat er ebenfalls in die Fußstapfen seine Vaters. Er wurde zum Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und des rheinischen Provinziallandtages gewählt. Finanziell war er aufgrund seines Erbes sehr gut für diesen Lebensweg ausgestattet. Zu Beginn der 1830er wurde in Trier eine Liste der vermögenden Bürger angelegt, um aufgrund dieser Bemessung die Abgabe der wohlhabenderen Trierer für die Bekämpfung der Cholera zu fordern. Laut dieser Erhebung verfügten 37 Personen über ein Jahreseinkommen von über 2.500 Thalern (was in etwa 7.500 Francs entsprach), womit sie sich kraß von den anderen Bevölkerungsgruppen abhoben. An der Spitze stand unangefochten Graf Edmund von Kesselstatt mit einem Jahreseinkommen von 30.000 Thalern. Nur sechs weitere Männer erreichten oder überschritten die zehntausender Marke. Friedrich von Nell finden wir auf der zweiten Position mit 15.000 Thalern Einkommen, seinen Schwager, den Bürgermeister Haw auf der dritten mit 10.000 Thalern. Durch den überragenden wirtschaftlichen Erfolg von Christoph Philipp von Nell, vor allem durch sein flexibles Agieren auf dem Markt mit Primärgütern schuf er auch für seine Nachkommen eine hervorragende Basis, um in der Gesellschaft des Vormärz zu reüssieren.

Literaturhinweise
  • Clemens, Gabriele B.: Immobilienhändler und Spekulanten. Die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung der Großkäufer in den rheinischen Departements. Boppard am Rhein 1995 (Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte 8).
  • Ebeling, Dietrich: Die von Nell – Eine rheinische Familie zwischen Ancien Régime und Moderne. In: Kurtrierisches Jahrbuch 31, 1991, S. 183–201.
  • Grands Notables du Premier Empire. Hg. v. Louis Bergeron und Guy Chaussiand-Nogaret. 28 Bde. Paris 1978–2001, Bd. III, S. 56.
  • Herres, Jürgen: Cholera, Armut und „Zwangssteuer“ 1830/32. Zur Sozialgeschichte Triers im Vormärz. In: Kurtrierisches Jahrbuch 30, 1990, S. 161–203.
  • Trierer Biographisches Lexikon. Hg. v. Heinz Monz. Trier 2000, S. 322.