Mayr, Denunziationen und Familienfehden

Porträt einer europäischen Kernregion. Der Rhein-Maas-Raum in historischen Lebensbildern, hrsg. v. Franz Irsigler & Gisela Minn, Trier 2005. [zurück zur Übersicht]

Denunziationen und Familienfehden:

Nicolas Collin – ein Dorfbürgermeister als Streithahn (1806–1870)

von Christine Mayr

Im Jahr 1854 erreichte ein anonymer Beschwerdebrief die Verwaltung des ostfranzösischen Departements Meuse. Darin wurde der Wirt des Dorfes Resson denunziert, der sein Wirtshaus angeblich zu verbotenen Uhrzeiten geöffnet halte. Ein paar Tage später erhielt die Verwaltung erneut Post aus Resson, diesmal aber war der Brief unterschrieben. Niemand hatte den Verfasser um eine Auskunft gebeten, doch er glaubte, sich rechtfertigen zu müssen. Er habe nichts mit der anonymen Denunziation zu tun, schrieb er. Seine weiteren Ausführungen beendete er mit der Bemerkung, es sei auch überhaupt nicht seine Art, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Verfasser des Briefes war derjenige, der im Zentrum dieses Aufsatzes stehen wird: Nicolas Collin.

Diese kleine Episode, die sich einige Jahre nach den Ereignissen, die hier zur Sprache kommen sollen, abspielte, wird vorangestellt, da die Schlußbemerkung des Nicolas Collin in einem erfrischenden Kontrast zu allem steht, was wir in Kürze über ihn erfahren werden.

Auf den folgenden Seiten wird die Rede sein von einem Bürgermeister in einer kleinen französischen Gemeinde in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er blieb weniger als zwei Jahre im Amt, doch blähte der Schriftwechsel über seine Person die Akten der Verwaltung auf wie bei kaum einem anderen seiner Kollegen. Viele Beschwerdebriefe zeugen von lebhaften Diskussionen im Dorf. Er stand in mehreren Konflikten im Mittelpunkt, eine Position, die ihm ganz offensichtlich gefiel. Auch er selbst verfaßte immer wieder Beschwerdebriefe, verkündete laut seine Meinung während der Versammlungen des Gemeinderates, im Wirtshaus oder auf der Straße.

Ziel dieses Aufsatzes ist es, anhand der weitgehend chronologischen Nachzeichnung der Ereignisse sein von den Dorfbewohnern vielkritisiertes Agieren in den Gemeindeämtern zu hinterfragen: Wie war sein Verhältnis zur Dorfbevölkerung und wie das zu den Organen der staatlichen Verwaltung? Welche Einstellung hatte er selbst zu seinem Amt? Welche Erklärungen für sein Verhalten lassen sich finden? Im Mittelpunkt soll der Mensch stehen, der die Institution „Bürgermeister“ im Dorf mit Leben füllte. Nicolas Collin war eben nicht nur Mitglied im Gemeinderat und später Bürgermeister, sondern für die Dorfbewohner zugleich auch Nachbar und für seine Familie Sohn, Ehemann oder Vater.

Ungewöhnlich viele Quellen erzählen von dem außerordentlich konfliktträchtigen „Fall Collin“. Er selbst äußerte sich in zahlreichen Briefen, die Vertreter der Verwaltung gaben ebenfalls ihre Meinung kund. Und da Collin die Gemüter vieler Einwohner erregte, haben wir zudem die Möglichkeit, etwas über deren Einstellungen ihm gegenüber zu erfahren. Dennoch müssen wir bei allen diesen Quellen beachten, daß sie aus einem bestimmten Blickwinkel geschrieben sind, und trotz der relativ dichten Überlieferung bleiben noch viele Fragen offen.

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die biographischen Rahmendaten unseres Protagonisten, über die uns Volkszählungslisten und Zivilstandsregister informieren: Nicolas Denis Tharaque Collin wurde 1806 im lothringischen Resson geboren und verstarb dort 1870 im Alter von 64 Jahren. Sein ganzes Leben verbrachte er in seinem Heimatort, sieben Kilometer von Bar-le-Duc, der Hauptstadt des ostfranzösischen Departements Meuse, entfernt. Im Jahr 1832 heiratete er Victoire Justine Mangin und hatte später mit seiner Frau sechs Kinder, drei verstarben bereits im frühen Kindesalter. Von Beruf war er Winzer wie viele der Einwohner des 700-Seelen-Dorfes.

Auch die familiären Wurzeln unseres Bürgermeisters in spe interessieren uns, beeinflußten sie doch wahrscheinlich auch seine „Karriere“ als Streithahn des Dorfes. Als er zur Welt kam, lebte seine Familie bereits in der siebten Generation in Resson. Zwei seiner Vorfahren, sein Urgroßvater und sein Großvater, waren im 18. Jahrhundert Bürgermeister des Dorfes gewesen. Auch der Vater von Nicolas Denis Tharaque Collin, Nicolas Eustache Collin, wurde im Jahr 1813 zum Bürgermeister von Resson vorgeschlagen. Der an der Spitze der Verwaltung des Departements stehende Präfekt entschied sich jedoch für einen anderen Kandidaten. In den nächsten Jahren erfolgten weitere Neubesetzungen der Bürgermeisterstelle, doch immer wieder ging Nicolas Eustache Collin, der die ganzen Jahre über Gemeinderatsmitglied war, leer aus. 1828 entschied sich die Verwaltung für Jean Nicolas Pornot, der bis zu seinem Tod im Jahr 1843 das Amt bekleiden sollte und Vater Collin damit endgültig die Chance nahm, doch noch Bürgermeister zu werden. Wahrscheinlich war es seine Verärgerung über den erfolgreicheren Kontrahenten, die Collin Senior im Jahr 1832 dazu veranlaßte, einen Brief an den Präfekten zu schicken, in dem er seinen Widersacher denunzierte. Er warf Pornot vor, private Ausgaben zu Lasten der Gemeindekasse getätigt sowie andere grobe Fehler bei der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten begangen zu haben. In seinem Rechtfertigungsbrief beschuldigte der Bürgermeister den alten Collin im Gegenzug, ihn öffentlich beleidigt zu haben, Unwahrheiten zu verbreiten und überhaupt ein Mensch zu sein, dem es nur aufs Prozessieren und das Schikanieren Anderer ankomme. Der Präfekt beendete die Angelegenheit, indem er die Vorwürfe Collins als unbegründet zurückwies.

Es ist davon auszugehen, daß Collin junior mit dem Neid des Vaters gegenüber dem amtierenden Bürgermeister aufwuchs, denn als er einige Jahre später selbst in den Gemeinderat gewählt wurde, setzte er alles daran, Pornot das Leben schwer zu machen. Wie sein Vater acht Jahre zuvor, schrieb er 1840 einen Denunziationsbrief, der die vermeintlich fehlerhafte Amtspraxis des Bürgermeisters Pornot bemängelte. Er beschuldigte ihn, die Versteigerung eines Stückes Gemeindeland eigenmächtig, ohne die Erlaubnis des Präfekten, durchgeführt und damit seine Kompetenzen überschritten zu haben. Als der Präfekt nach monatelangem Schriftverkehr den Streitpunkt zugunsten des Bürgermeisters entschied, wurde Collin im Gemeinderat ausfällig: Er provozierte, beschimpfte und beleidigte Pornot während einer Sitzung so sehr, daß er wegen mangelnden Respekts gegen eine Amtsperson zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, die er in Bar-le-Duc absitzen mußte. In seiner Abwesenheit führte Collin Vater die Beleidigungen gegen den Bürgermeister fort. Der Präfekt erkannte in diesen Angriffen eine Familienfehde der Collins gegen Bürgermeister Pornot und reichte sie an die zuständigen gerichtlichen Instanzen weiter. Schon einige Monate später nahm Nicolas Denis Collin eine andere Angelegenheit zum Anlaß, sich abermals im Gemeinderat über Bürgermeister Pornot zu beschweren und diesem Parteilichkeit und Voreingenommenheit gegenüber seiner Person vorzuwerfen. Wahrscheinlich zog sich der Konflikt zwischen dem Gemeinderatsmitglied Collin und dem Bürgermeister Pornot auch in der Folgezeit als konstanter Faktor durch die Diskussionen im Gemeinderat. In mehreren Quellen wird berichtet, daß der Gemeinderat gespalten sei und Collin die Schuld daran trage.

Als Bürgermeister Pornot im Frühjahr 1843 verstarb, sah Collin seine Stunde gekommen. Nun wollte er nach alter Familientradition das Bürgermeisteramt übernehmen, das sein Vater erfolglos angestrebt hatte. Einen ersten Schritt dahin erreichte er einige Monate später mit seiner Ernennung zum Adjunkten, dem Beigeordneten des Bürgermeisters und zweiten Mann in der Gemeindeverwaltung. Wie hatte er dieses Amt erhalten können? Wer hatte ihn vorgeschlagen?

Bürgermeister und deren Adjunkten wurden in Frankreich seit 1831 aus dem Kreis der Gemeinderäte rekrutiert. Letztere wurden von den wahlberechtigten Dorfbewohnern, zu denen während dieser Zeit nur die einkommensstarken Bevölkerungsgruppen gehörten, alle drei Jahre gewählt. Es ist also zunächst danach zu fragen, wie Collin im Jahr 1837 in den Gemeinderat gewählt wurde. Ein an den Präfekten gerichteter warnender Brief, geschrieben von einem Einwohner Ressons im Sommer 1843, schildert, wie Collin zusammen mit Verwandten vor den Gemeinderatswahlen auf Stimmenfang ging. Will man dieser durchaus parteiischen Stimme glauben, wandte Collin bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt intrigante Methoden an, um eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinde zu erlangen. Im Jahr 1843, als Collin seine Chance sah, zum Adjunkten ernannt zu werden, reichte die Wählerbeeinflussung im Dorf allein nicht mehr aus. Da die Departementsverwaltung über die Besetzung dieses Amtes zu entscheiden hatte, war es für einen potentiellen Kandidaten naheliegend, Außenkontakte zu einflußreichen Persönlichkeiten ins Spiel zu bringen. Gleichsam als Mittelsmann zwischen Verwaltung und Dorf konnte der Friedensrichter fungieren, der die unterste Stufe des französischen Gerichtswesens leitete. Sein Gerichtsbezirk war der Kanton, eine Verwaltungseinheit die wesentlich kleiner war, als die des Arrondissements oder gar des Departements und somit auch überschaubarer.

Der Präfekt bat deshalb den Friedensrichter häufig um eine Auskunft, wenn es einen neuen Amtsträger zu ernennen galt. Der Friedensrichter begab sich zu solchen und anderen Anlässen in das betroffene Dorf und sprach dort mit Personen seines Vertrauens. Schließlich unterbreitete er dem Präfekten einen Kandidatenvorschlag. In unserem Fall schlug der Friedensrichter des Kantons Vavincourt, zu dem außer Resson noch 14 weitere Gemeinden gehörten, Collin als Beigeordneten des Bürgermeisters vor. Er pries dessen Qualitäten in den höchsten Tönen: Collin sei ein rechtschaffener Mann, verfüge über eine umfangreiche Bildung und ein ausreichendes Vermögen. Den kleinen Makel einer Vorstrafe verschwieg der Friedensrichter zwar nicht, stellte Collin aber dennoch als geeigneten Kandidaten dar. Daß der Friedensrichter Collin empfahl, obwohl dieser kein unbeschriebenes Blatt war, deutet darauf hin, daß Collin möglicherweise guten persönlichen Kontakt zu ihm hatte und seine Entscheidung beeinflussen konnte. Davon berichtet auch der bereits erwähnte Beschwerdebrief aus dem Sommer 1843.

Zwei Jahre nach der Ernennung zum Adjunkten übernahm Collin im Dezember 1845 nach dem Umzug des offiziell amtierenden Bürgermeisters nach Bar-le-Duc als Stellvertreter dessen Funktionen. Er leitete jetzt die Gemeinderatssitzungen, führte den Vorsitz in weiteren dörflichen Gremien und hatte alle Aufgaben der Gemeindeverwaltung unter sich. Diese waren sehr vielfältig: sie beinhalteten beispielsweise ortspolizeiliche Aufgaben, die Organisation des Gemeindewegebaus, des Schul- und des Armenwesens, die Verwaltung der Gemeindeeinkünfte sowie die Ernennungs- und Befehlsgewalt über die Gemeindebediensteten, wie die Feld- und Waldhüter, den Gemeindeeinnehmer und den Gemeindesekretär, und schließlich die Bewältigung der gesamten Korrespondenz mit den übergeordneten Verwaltungsbehörden. Ein gewissenhafter Bürgermeister hatte sich also in viele Bereiche einzuarbeiten und konnte viele Fehler machen. Seine Amtstätigkeiten boten eine große Angriffsfläche für Kritik. Sehr bald wurden bezüglich der Amtspraxis Collins kritische Stimmen laut. Dorfbewohner wandten sich in Beschwerdebriefen an den Präfekten, um diesen vor der definitiven Ernennung Collins zum Bürgermeister zu warnen. Er erfülle seine Aufgaben nicht und habe außerdem persönlich gegen die vom Gemeinderat verabschiedeten Beschlüsse verstoßen. Beispielsweise legte der Gemeinderat des von Weinbau geprägten Dorfes Resson jedes Jahr aufs Neue fest, welches Datum der offizielle Beginn der Traubenlese sein sollte. Meist einigte man sich hier auf einen Termin gegen Ende September oder Anfang Oktober. Collin jedoch habe bereits vor diesem offiziellen Stichtag unerlaubterweise mit seiner Familie im Weinberg Trauben gelesen, so ein Brief eines Einwohners aus Resson. Auch habe er sich häufig die ganze Nacht im Wirtshaus aufgehalten und dort Karten gespielt, anstatt die Einhaltung der Sperrstunde sicherzustellen, wie es zu seinen Aufgaben gehört hätte. Nach seinen durchzechten Nächten müsse ihn seine Frau gemeinsam mit den Frauen der anderen Wirtshausstammgäste am nächsten Morgen dort abholen.

Diese Denunziationsbriefe lassen mehrere Aspekte zu Tage treten: Collin hatte Gegner im Dorf, die nicht davor zurückschreckten, ihn bei den staatlichen Behörden anzuschwärzen, sei es aus negativen Erfahrungen mit ihm, oder weil sie ihm die bevorstehende Ernennung zum Bürgermeister nicht gönnten. In jedem Fall aber kreideten sie ein moralisch verwerfliches Handeln an, das einem bald in Amt und Würden stehenden Bürgermeister nicht gut zu Gesicht stehen konnte. Sowohl der Verstoß gegen in der Gemeinde geltende Regelungen, die Collin selbst im Gemeinderat federführend verabschiedet hatte, als auch ausschweifende Wirtshausbesuche verbunden mit exzessivem Alkoholkonsum wurden ohne Zweifel als unter moralischen Gesichtspunkten zu kritisierende Handlungsweisen eingestuft. Hinzu kommt, daß beide Schilderungen indirekt den Vorwurf beinhalteten, Collin ziehe seine Familie in dieses Verhalten mit hinein. In diesen Briefen wird außerdem die ständige gegenseitige Kontrolle der Dorfbewohner deutlich, die vor allem moralische Verfehlungen genauestens registrierten. Im Dorf kannte nicht nur jeder jeden, man wohnte auch nah beieinander und begegnete sich täglich. Gerade die wenigen Dorfautoritäten wie der Bürgermeister, der Pfarrer und der Lehrer waren in besonderem Maße den Blicken der Nachbarn ausgesetzt. Mit ihren an die Verwaltung gerichteten Denunziationsbriefen hielten die Dorfbewohner die innerhalb des Dorfes alltäglich stattfindende Kontrolle, die ausschließlich auf mündlicher Kommunikation beruhte, schriftlich fest und trugen so ihre Kritik an Collin über die Dorfgrenzen hinaus. Ihre Kommunikationsform haben sie damit derjenigen der staatlichen Verwalter angepaßt, die ihrerseits meist schriftlich mit den Gemeinden Kontakt hielten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte der Umfang der Korrespondenz auf allen Ebenen der Verwaltung erheblich zugenommen.

Wir wissen nicht, ob der Adressat dieser Briefe, der Präfekt, diesen Anschuldigungen Glauben schenkte. Auch kennen wir nicht die Gründe, die die staatlichen Behörden dazu bewegten, Collin im Herbst 1846 zum Bürgermeister zu ernennen. Zu Beginn des Jahres hatte man bereits eine andere Person aus Resson für dieses Amt vorgesehen, doch eine zunächst ausgesprochene Ernennung wurde später offensichtlich wieder zurückgezogen. Möglicherweise hat Collin selbst die Entscheidung des Präfekten beeinflußt, etwa über gute Kontakte zu dessen Vertrauten.

Fest steht jedenfalls, daß sich die Departementsverwaltung mit ihrer Auswahl des neuen Bürgermeisters für die Gemeinde Resson einige Schwierigkeiten einhandelte: Noch im Jahr 1846 wurde erneut Kritik an Collin laut. Diesmal wandten sich drei Einwohner an den Präfekten. Sie kritisierten jedoch nicht etwa Collins vermeintlich unmoralisches Verhalten, sondern die durch ihn am 4. Oktober verursachten Unregelmäßigkeiten bei den Offizierswahlen der Nationalgarde. Seit 1830 wurden Wahlen in der Nationalgarde durchgeführt. Der erst kurz zuvor eingesetzte Bürgermeister Collin hatte diese Wahl zusammen mit zwei Gemeinderäten geleitet und, laut Beschwerde der Dorfbewohner, zu beeinflussen versucht. Diesen Vorwurf des Amtsmißbrauchs nahm der Präfekt sehr ernst und forderte Collin auf, sich zu rechtfertigen. Eine auf Kantonsebene eingesetzte Jury entschied allerdings kurz darauf im Sinne Collins und wies die gegen ihn eingebrachte Beschwerde ab. So konnte er ungeachtet der schweren Vorwürfe weiterhin im Amt bleiben. Weitere Beschwerden gegen seine Amtspraxis wurden im Laufe des Jahres 1847 erhoben und blieben ebenfalls ohne Konsequenzen: Ein Metzger beschwerte sich, Collin habe sich in Zusammenhang mit einem von ihm gepachteten Weinberg, der Eigentum der Gemeinde Resson war, nicht korrekt verhalten. Ein weiterer Beschwerdebrief wurde von den Leitern der ortsansässigen Feuerwehr im Dezember 1847 an den Präfekten geschickt. Es war bereits ihr dritter; in den beiden vorangegangenen Jahren, in denen Collin zunächst noch stellvertretender Bürgermeister war, hatten sie dem Präfekten davon berichtet, daß die Helme der Feuerwehrmänner dringend repariert werden müßten. Collin hatte auf Anfrage des Präfekten hin immer zugesichert, die Angelegenheit zu regeln, doch seien konkrete Schritte noch nicht unternommen worden. Im dritten Jahr nun drohten der Sergeant und der Unterleutnant sogar mit der Aufgabe ihres Amtes. Es folgte ein mahnender Brief des Präfekten an den Bürgermeister, in dem er diesen aufforderte zu erklären, was ihn bisher an der Umsetzung seines Vorhabens gehindert habe. Vielleicht ließ Collin es dabei bewenden, denn ein Antwortbrief ist nicht überliefert.

Von Collins kurzer Tätigkeit im Bürgermeisteramt finden sich über diese Beschwerden hinaus wenig Spuren in den Verwaltungsakten. Er entwickelte bei seiner Arbeit an der Spitze der Gemeindeverwaltung wenig Eigeninitiative, reagierte meist nur auf Schreiben des Präfekten und absolvierte lediglich das Pflichtprogramm.

Im Frühjahr 1848 kam es dann zu einem offenen Konflikt zwischen Bürgermeister Collin und einer größeren Anzahl von Einwohnern Ressons. Im Februar war in Paris die Revolution ausgebrochen und die Republik ausgerufen worden. Am 4. März hatte der Friedensrichter Collin wie auch alle anderen Bürgermeister seines Kantons über die neuen politischen Verhältnisse informiert und ihnen Verhaltensanweisungen gegeben: Das Wichtigste, so seine Direktive, sei, daß die Ruhe im Kanton und die Ordnung in den einzelnen Gemeinden nicht gestört werde. Der Bürgermeister solle ihn, den Friedensrichter, über schwerwiegende Vorkommnisse in seiner Gemeinde informieren. Dies aber war nicht nötig, denn die Einwohner Ressons übernahmen diese Aufgabe für Collin: Ende März 1848 wandten sich etwa 60 Dorfbewohner, darunter auch fünf der zwölf Gemeinderäte, in einem Brief an die staatlichen Behörden, um Machtmißbrauch durch Collin anzuzeigen. Was war geschehen? Der Bürgermeister hatte der Gruppe untersagt, die jeder Gemeinde zugeteilte revolutionäre Gemeindefahne am Rathaus zu hissen. Die Einwohner aber hielten dennoch an der Durchführung ihrer „patriotischen Kundgebung“ fest und besorgten sich zu diesem Zweck eine noch seit den revolutionären Ereignissen des Jahres 1830 aufbewahrte Fahne. Doch Collin, der sich mit dieser von ihm als „Aufstand“ bezeichneten Aktion nicht einverstanden erklärte, versuchte, dies zu verhindern. Sein Eingreifen brachte ihm „Nieder mit dem Bürgermeister“-Rufe ein, als die Stimmung unter den Anwesenden zu seinen Ungunsten kippte. Am nächsten Morgen jedoch wurde die Fahne wieder eingeholt und gemeinsam mit Collin, der sich inzwischen offensichtlich versöhnlich gezeigt hatte, ein Trunk im Wirtshaus eingenommen. Doch im Widerspruch zu seiner eigenen Aufforderung, die Ereignisse des Vorabends zu vergessen, strengte Collin gegen einige der Beteiligten Prozesse an. Zugleich verteidigte er sein Verhalten in einem Brief gegenüber der Verwaltung: Er habe schließlich sein Bestes gegeben, den „Aufstand“ zu verhindern, gleichzeitig fühlte er seine Autorität mißachtet. Er beschuldigte die beteiligten Einwohner sogar, getarnte Revolutionsgegner zu sein, die, wenn man nicht achtgebe, die Macht in der Gemeinde an sich reißen und sich zum Bürgermeister oder zum Beigeordneten ernennen würden.

Diese Rhetorik paßt in ein häufig anzutreffendes Schema, nach dem persönliche Feinde im Dorf als Gegner des herrschenden Regimes denunziert wurden. Einem Konflikt, der in seinem Kern auf Personen bezogen war, wurde so in seiner sprachlichen Darstellung eine politische Dimension verliehen. Dies zeigt, daß die aktuell gültigen politischen Kategorien bereits internalisiert waren. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang zudem, daß Collin sich in seinem Brief auch formal auf die neue politische Situation einzustellen wußte und die während der Revolution geänderten Anredeformen und Floskeln verwendete. So stellte er seinem Brief die Losung der Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ voran und beendete ihn mit einem „brüderlichen Gruß“, wohingegen seine Korrespondenz der früheren Jahre durch die damals geläufigen unterwürfigen Grußformeln gekennzeichnet war.

So gar nicht zu den Forderungen und Inhalten der Revolution passen sollte hingegen sein Verhalten während der Frühjahrstage des Jahres 1848. Eine Wahlversammlung der Nationalgarde versuchte er zugunsten eines ihm geneigten Kandidaten zu beeinflussen. Als die Mitglieder der Nationalgarde seinem parteiischen Verhalten Widerstand entgegensetzten, konterte er mit verbalen Ausfällen und beendete die Diskussion mit dem Hinweis, er habe keine Anweisungen von ihnen entgegenzunehmen und sie sollten sich doch zum Teufel scheren! Eine Schilderung dieser Ereignisse erreichte die Verwaltung in einem Brief, der von 22 Mitgliedern der Nationalgarde unterzeichnet worden war. So wuchsen sowohl der innere als auch der äußere Druck auf Collin unaufhörlich. Schließlich entsandte der Präfekt, der während der Revolution die Bezeichnung „Kommissar“ führte, einen unabhängigen Beobachter nach Resson, der ihm von der Stimmung dort berichten und geeignete Maßnahmen vorschlagen sollte. Diese Person, ein Arzt aus dem benachbarten Dorf Loisey, schilderte die Situation nach seinem Aufenthalt in Resson wie folgt: die Ordnung vor Ort sei gestört und die Einwohner forderten die Absetzung des Bürgermeisters. Diese Maßnahme schien auch dem Berichterstatter angemessen. Dennoch wurde zunächst keine offizielle Kündigung durch die staatlichen Organe ausgesprochen. Wahrscheinlich legte man Collin den Rücktritt jedoch eindringlich nahe, denn schon vierzehn Tage nach seinen noch sehr selbstsicheren Schilderungen der Ereignisse, reichte er im April selbst sein Rücktrittsschreiben ein. Darin gab er kleinlaut zu, daß durch seine Verwaltung die Ordnung in der Gemeinde gestört sei. Sein einstmals selbstbewußter Tonfall war inzwischen einem knappen Schuldeingeständnis gewichen. Kurz nach seinem Rücktritt wurde der Sohn des 1843 verstorbenen Bürgermeisters und Widersachers von Collin, Jean Pierre Pornot, zum Bürgermeister ernannt und bei der ersten Bürgermeisterwahl nach der neuen republikanischen Gesetzgebung durch den Gemeinderat am 14. August 1848 mit einer großen Mehrheit in diesem Amt bestätigt. Er erfreute sich offensichtlich einer weitaus größeren Beliebtheit bei der Dorfbevölkerung als sein Amtsvorgänger.

Collins Karriere als Bürgermeister hatte somit nach noch nicht einmal zweijähriger Amtszeit ein schnelles und unrühmliches Ende gefunden. Sein Ausscheiden aus dem Bürgermeisteramt stand in Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen des Frühjahrs 1848.

Die Einwohner von Resson nahmen die Nachricht von den in Frankreich und ganz Europa um sich greifenden Demokratisierungstendenzen nicht nur passiv auf, sondern sie nutzten diese, um sich bei den Verwaltungsbehörden noch eindringlicher als zuvor über ihren ungeliebten Bürgermeister zu beschweren. Die Briefe wurden zu diesem Zeitpunkt von einer zahlenmäßig bedeutenderen Gruppe von Einwohnern unterschrieben als in den Jahren zuvor und Collins Verhalten wurde nun wesentlich deutlicher kritisiert. Gleichzeitig erreichten die Beschwerden aus Resson nun staatliche Repräsentanten, die die geäußerten Kritikpunkte ernst nahmen und sie von nun an dazu veranlaßten, Konsequenzen zu ziehen.

Doch weder die andauernde Kritik an seiner Amtspraxis noch das abrupte Ende seiner Bürgermeisterkarriere stellten für Nicolas Collin einen Grund dar, sich nicht weiterhin auf diese zu berufen. In einigen Briefen, die er während der 1850er Jahre schrieb, betitelte er sich selbst als „ehemaligen Bürgermeister von Resson“! Dies wirft ein Licht auf seine Einstellung zum Bürgermeisteramt: Er sah darin hauptsächlich einen Prestigegewinn, bei dem es einzig und allein zählte, das Amt innegehabt zu haben und nicht etwa, es erfolgreich geführt zu haben.

Aus dem Bürgermeister war nun eine Privatperson geworden. Doch auch nach seinem Rücktritt war Collin ganz offensichtlich daran gelegen, am dörflichen Machtspiel teilzunehmen. So übernahm er in den 1850er Jahren kleinere Aufgaben in der Gemeinde. Mehr noch: im Jahr 1854 unterschrieb er einen gegen seinen Nachfolger Jean Pierre Pornot gerichteten Beschwerdebrief von 30 einflußreichen Einwohnern Ressons an den Präfekten. Ein Schriftvergleich legt nahe, daß Collin sogar der Initiator dieses Briefes war, der mit dazu beigetragen haben mag, daß Pornot sein Amt kurz darauf aufgab. In jedem Fall bleibt festzuhalten, daß Nicolas Collin sich auch nach seiner Zeit als Bürgermeister weiterhin bemühte, seinen ehemaligen Konkurrenten, gegen den er offenbar eine tiefsitzende persönliche Feindschaft hegte, bei den staatlichen Behörden in Mißkredit geraten zu lassen.

Nicolas Collin tritt uns aus den Quellen als streitsüchtiger Mensch, intriganter Gemeinderat und autoritärer Bürgermeister entgegen. Diese Charakterzüge sind es, die seinen Verwaltungsstil maßgeblich bestimmten. Collin war in seinem Heimatdorf Resson für zahlreiche Konflikte verantwortlich. An seiner Person spaltete sich der Gemeinderat und möglicherweise sogar das gesamte Dorf. Dabei bildeten sich die Fraktionen innerhalb des Dorfes entlang der familiären Konstellationen. Die Konkurrenz zwischen verfeindeten alteingesessenen Familien und ihren jeweiligen Verbündeten entzündete sich insbesondere an der Frage der Besetzung von Gemeindeämtern, deren herausragendstes das Bürgermeisteramt war. Der Einsatz, der dabei auf dem Spiel stand, waren Ehre und Einfluß der Familie. Für Nicolas Collin ging ein wichtiges Ziel in Erfüllung, als er zum Bürgermeister ernannt wurde und damit eine Familientradition fortführen konnte. Seiner Familie verhalf er außerdem zu größerem Ansehen und Machtzuwachs. Lange Zeit hatte er das von seinem Vater begonnene Intrigenspiel gegen die Familie Pornot weitergeführt. Es erscheint nur konsequent, daß er diesen familiären Konkurrenzkampf auch nach seinem Rücktritt weiterverfolgte. Sein Amtsverständnis als Bürgermeister läßt sich zu großen Teilen unter den Gesichtspunkten des Prestigegewinns für die eigene Familie und des persönlichen Machtstrebens interpretieren.

Im Fall von Collin währte der Ansehensgewinn jedoch nur kurze Zeit, denn mit seinem Verhalten erzeugte er viel Mißmut in Resson. Einige Einwohner verfaßten oder unterschrieben Beschwerdebriefe gegen ihn. Auf diese Weise stießen sie in der Departementsverwaltung eine Diskussion um ihren Bürgermeister an und führten seinen Rücktritt mit herbei. Hatten die staatlichen Verwaltungsorgane Collin zuvor wiederholt in Schutz genommen, so waren sein allzu autoritärer Verwaltungsstil und seine politische Unzuverlässigkeit während der Revolution von 1848 nicht mehr tragbar. Mit ihren Denunziationsschreiben griffen die Einwohner eine Protestform auf, die vorher sowohl Collin selbst als auch sein Vater häufig praktiziert hatten. Die Verschriftlichung der ansonsten mündlich ausgetragenen Konflikte läßt für die Nachwelt nur einen kleinen Einblick zu. Im „Jahrhundert der Dorfkämpfe“ (Corbin) erscheint er dem Betrachter als Spitze eines Eisbergs, der das Ausmaß gegenseitiger Beschuldigungen, Beschimpfungen und übler Nachrede im lothringischen Resson wie auch in anderen Gemeinden höchstens erahnen läßt.

Quellen- und Literaturhinweise
  • Die verwendeten Quellen befinden sich alle in den Archives Départementales de la Meuse in Bar-le-Duc unter folgenden Signaturen:
  • 2 E 435, 1 K 60*, 38 M 12, 38 M 13, 51 M 426, 52 M 426, 2 O 982, 118 Tp 52, E dépôt 324/8, 16, 22, 61, 62, 84 und F 22.
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  • Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziation während des 18. und 19. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive. Hg. v. Michaela Hohkamp und Claudia Ulbrich. Leipzig 2001 (Deutsch-Französische Kulturbibliothek; 19).