Ziwes, Jüdisches Frauenleben im späten Mittelalter

Porträt einer europäischen Kernregion. Der Rhein-Maas-Raum in historischen Lebensbildern, hrsg. v. Franz Irsigler & Gisela Minn, Trier 2005. [zurück zur Übersicht]

Jüdisches Frauenleben im späten Mittelalter: Reynette von Koblenz

von Franz-Josef Ziwes

Die spätmittelalterliche Lebenswelt jüdischer Frauen in Mitteleuropa erschließt sich dem modernen Betrachter nur äußerst lückenhaft. Anhand der dürftigen Überlieferung von und über Jüdinnen aus dem Zeitraum zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert lassen sich die Besonderheiten ihres Daseins als Frauen und als Angehörige einer religiösen wie gesellschaftlichen Minderheit kaum in deutlichen Konturen nachzeichnen. Um so glücklicher fügt es sich, wenn, wie im Falle der Reynette von Koblenz, einige Dutzend Textzeugen meist urkundlicher Form erhalten geblieben sind, die es ermöglichen, den Lebensweg einer Jüdin wenigstens ausschnitthaft zu beleuchten und dabei Näheres über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ihrer Existenz in Erfahrung zu bringen.

Die vergleichsweise gute Überlieferung zu Reynette ist ihrem wirtschaftlichen Erfolg zu verdanken. Über ein Vierteljahrhundert dominierte sie den jüdischen Kapitalmarkt am Mittelrhein. Selbst Landesfürsten, Grafen und Städte zählten zu ihren Kunden. Weder vor noch nach ihr sollte eine Koblenzer Jüdin jemals eine derart herausgehobene wirtschaftliche Rolle spielen. Ihr Name Reynette bzw. Reyne deutet zweifellos auf eine Herkunft aus der Gallo-Romania, also aus dem Gebiet des heutigen Frankreich hin. Vermutlich gehörte sie zu den Nachfahren jener Juden, die im Jahre 1306 vom französischen König Philipp IV. aus dessen Kron- und Lehnslanden vertrieben worden waren. Einige der zwangsweise Emigrierten konnten sich im Territorium des damaligen Trierer Kurfürsten Balduin von Luxemburg niederlassen, nicht zuletzt in Koblenz und Umgebung. Auch der Koblenzer Jude Bonenfant, zu deutsch „Gutkind“, der im Jahre 1330 erstmals als Geldverleiher erscheint und zu dessen Familie Reynette später in verwandtschaftliche Beziehung trat, dürfte aus der Romania an den Rhein gekommen sein.

Bevor Reynette nach Koblenz kam, lebte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Leo – in den Quellen auch Lewe oder Levin genannt – in dem kurtrierischen Amtsstädtchen Münstermaifeld. Über Leos Herkunft ist nichts Näheres bekannt. Vielleicht stammte auch er aus Frankreich, könnte er doch mit jenem „Lewen judeum gallicum“ identisch sein, der im Januar 1333 von Gottfried von Sayn mit Mutter, Kindern und Familie in Vallendar aufgenommen wurde. In Münstermaifeld ist Leo erstmals im November 1355 als Jude des Trierer Erzbischofs nachgewiesen. Hier war er noch im April 1358 gemeinsam mit Reynette in der Geld- und Pfandleihe tätig. Damals schuldeten Johann, Sohn des Quetschpenning, und Matthias von Augst den beiden 120 alte Schildgulden, während Frau Kunigunde von Isenburg drei silberne Schalen, einen silbernen Becher sowie einen silbernen Löffel bei Leo versetzt hatte.

Nur wenig später zog es das jüdische Ehepaar nach Koblenz, wo sich wesentlich bessere Erwerbsmöglichkeiten boten als in der kleinen Landstadt Münstermaifeld. Bereits im März 1361 gewährte Leo als Koblenzer Judenbürger der Stadt Andernach einen Kredit in Höhe von 200 Gulden. Er ist damit erst der zweite Koblenzer Jude, der nach der Katastrophe der Pestverfolgung von 1349 wieder in der Geldleihe belegt werden kann. Der erste ist Josef, Sohn der Margarete Bonenfant. Seine Schuldnerin war ebenfalls die Stadtgemeinde Andernach, die 225 Mark Aachener Pagaments bei ihm aufgenommen hatte.

Den Hintergrund für dieses wie für alle folgenden von Andernach aufgenommenen Judendarlehen bildete die extreme Verschuldung der kurkölnischen Stadt. Neben den Verplichtungen aus Leibrentenverkäufen waren dies vor allem Verbindlichkeiten gegenüber dem Kölner Erzbischof Wilhelm von Gennep, mit dem man seit 1356 in offenem Streit lag. Erst am 22. Oktober 1359 war unter der Vermittlung der Stadt Köln eine Sühne zwischen Erzbischof und Andernacher Stadtgemeinde zustande gekommen, bei der sich letztere zur Wiedergutmachung des von ihr angerichteten Schadens verpflichten mußte. Zu den damaligen Verbündeten Andernachs zählten neben Köln die Städte Bonn, Oberwesel und Koblenz, die sich allesamt zuletzt am 7. September 1359 auf zehn Jahre zusammengeschlossen hatten. Höchstwahrscheinlich hat der Bündnispartner aus Koblenz den Kredit des Josef Bonenfant für die in arger Geldnot befindliche Rheinstadt vermittelt. In Koblenz befand sich damals die weit und breit einzige größere jüdische Niederlassung. Selbst in Köln siedelten sich erst 1372 wieder Juden an. Die Juden aber waren neben den Lombarden und Kawertschen – also berufsmäßigen christlichen Geldverleihern – die einzigen, die auch kurzfristig größere Geldmengen, wie sie die Stadt Andernach so dringend benötigte, zur Verfügung stellen konnten.

Diese einmalige Gelegenheit erkannte auch Reynettes Ehemann Leo sofort, so daß er sich alsbald voll im Andernach-Geschäft engagierte. Die ungebrochen hohe Nachfrage der Stadt nach jüdischem Kapital erlaubte es ihm sogar, für seine Kredite den ungewöhnlich hohen Jahreszins in Höhe von 72,2 % zu verlangen, während der sonst übliche Satz bei 43 1/3 % lag. Für die Zeit von 1361 bis 1365 sind allein ein Dutzend Schuldverschreibungen Andernachs gegenüber Leo mit einem Nennwert von alles in allem 1960 Gulden und 365 Mark Pfennigen erhalten. Dem standen für denselben Zeitraum nur fünf Anleihen der Stadt gegenüber, die nicht von Leo stammten und die auch in der Höhe nur einen Bruchteil von seinen Krediten ausmachten.

Das in diesen Anfangsjahren von Leo und Reynette gemeinsam erwirtschaftete Kapital bildete den Grundstock für jenes überaus erfolgreiche Kreditunternehmen, das Reynette seit Leos Tod im Jahre 1365 oder 1366 alleine weiterführte und beträchtlich ausbaute. Schon 1369 war sie als erste unter den Koblenzer Geldhändlern in der Lage, einen Kredit über 1000 Gulden zu vergeben. Damals stand die Andernacher Bürgerschaft mit 1600 Gulden bei ihr in der Kreide. Einen absoluten Höhepunkt erreichte diese Geschäftsbeziehung drei Jahre später, als die Jüdin gegenüber den Andernacher Stadtvätern Forderungen in der für die rheinländischen Juden dieser Zeit bereits außergewöhnlichen Höhe von 8000 Gulden geltend machte. Kein anderer Koblenzer Jude wäre damals in der Lage gewesen, eine derartige Summe aufzubringen.

Da die Andernacher Bürgerschaft den enormen Verpflichtungen gegenüber Reynette auf herkömmliche Weise nicht mehr nachzukommen drohte, wurde auf Vermittlung von Beauftragten des Trierer Erzbischofs ein Rückzahlungsmodus vereinbart, der die momentane finanzielle Leistungskraft der Schuldner stärker berücksichtigte. Statt der Tilgungsraten in bar hatten die Bürger die Möglichkeit, ihre Schulden mit Naturalien abzutragen. So lieferten die Andernacher der Jüdin im März 1373 Wein im Wert von 1000 Gulden als Ratenabschlag auf die erwähnten 8000 Gulden. Es darf wohl angenommen werden, daß Reynette diesen Wein ebenfalls mit Gewinn weiterverhandelt hat. Derartige Techniken zur Begleichung von Schulden waren durchaus üblich und erfreuten sich vor allem in Weinbauregionen außerordentlicher Beliebtheit, da der Handel und die Spekulation mit Weineinkünften neben den Zinseinnahmen zusätzliche Gewinne versprachen.

Auch Reynettes zweiter Ehemann Moses Bonenfant tätigte solche Geschäfte, wenngleich in einem wesentlich bescheideneren Maße. So bekundete der Weinbauer Gybel Meusepad am 14. Februar 1373 vor dem Oberlahnsteiner Schöffengericht, daß er dem Moses bis Weihnachten dieses Jahres noch 28 Gulden schuldete. Giebel verpflichtete sich, dem Juden im Herbst seinen gesamten Weinertrag zur Verfügung zu stellen, wovon er zwei Ohm sofort abführen mußte, während der Rest zuvor von den Unterkäufern geschätzt wurde. Der von Moses schließlich erzielte Verkaufserlös war dann auf die geschuldeten 28 Gulden anzurechnen.

Etwas anders verhielt es sich mit den vier Fudern fränkischen und anderthalb Fudern hunnischen Weines, die der mainzische Burggraf auf Lahneck bei Oberlahnstein, Daniel von Langenau, im Mai 1367 gemeinsam mit seinen Mitschuldnern der Reynette von seinen Weingärten in Bassenheim zu liefern versprach. Daniel sollte den Wein, den er der Jüdin wegen eines Kredits von 550 Gulden schuldete und dessen Wert pauschal auf 100 Gulden pro Fuder veranschlagt wurde, nach jüdischer Vorschrift, also koscher herrichten lassen. Vermutlich hat Reynette diesen Wein nicht als Handelsware betrachtet, sondern eher für den eigenen Konsum oder allenfalls für den Verkauf an ihre Glaubensgenossen benötigt. 13 Jahre später waren Daniels ursprünglich auf 550 Gulden bezifferten Verpflichtungen gegenüber Reynette auf 1000 Gulden angelaufen. Um Schlimmeres zu verhindern – so Daniel – löste er das alte Schuldverhältnis mit Reynette durch ein neues ab, in dem unter Einberechnung der fälligen Zinsen und Zinseszinsen eine Schuldsumme von nunmehr 1200 Gulden zugrundegelegt wurde. Für die Tilgung wurden vier neue Termine mit Raten von jeweils 300 Gulden vereinbart, von denen die erste spätestens am kommenden Fest Mariä Lichtmeß fällig war. Mentalitätsgeschichtlich interessant und aufschlußreich für das christlich-jüdische Verhältnis im Mittelalter überhaupt ist die Art und Weise, in der Reynette den ersten Ratentermin in ihrem hebräischen Rückvermerk auf Daniels Schuldurkunde notierte. Während der deutsche Text der Urkunde für die Festtagsbezeichung die durchaus übliche Umschreibung von „unser frawen dag, daz man dy kerzin yn dy hant nymmet“ anführt, bevorzugte Reynette die wesentlich kürzere Formulierung „Zeit der Finsternis“. Diese negative Wortwahl war durchaus bewußt und richtete sich gegen die von den Christen nicht selten mit antijüdischer Tendenz als Gottesmutter verehrte Jungfrau Maria. So wie die Juden in ihrer internen antichristlichen Polemik die jungfräuliche Gottesmutter bisweilen mit weniger schmeichelhaften Attributen beehrten, so fanden sie – und damit auch Reynette – für das christliche Fest Mariä Lichtmeß keine passendere Bezeichnung als eben die „Zeit der Finsternis“.

Es wurde bereits erwähnt, daß Reynettes geschäftlicher Erfolg im wesentlichen in ihren Kredittransaktionen mit der Stadt Andernach begründet lag. Auch nachdem es zu Beginn des Jahres 1373 aufgrund der Andernacher Zahlungsschwäche zu Komplikationen gekommen war, blieb Reynette bis gegen Ende der 1370er Jahre die wichtigste Darlehenspartnerin der Stadt. Erst seitdem um 1380 zunehmend Andernacher und Kölner Juden sowie Bürger aus der Stadt selbt als deren Geldgeber auftraten, ging Reynettes Engagement in der kurkölnischen Stadt merklich zurück, doch gewährte sie noch bis einschließlich 1389, zum Teil mit ihrem Ehemann Moses, kleinere Darlehen.

In der Zwischenzeit hatte sie das Schwergewicht ihrer Aktivitäten rheinaufwärts verlagert, wo sie mit dem Grafen Adolf von Nassau einen Geschäftspartner gewinnen konnte, der seit den siebziger Jahren im Kampf um seine Anerkennung als Mainzer Erzbischof und den damit zusammenhängenden territorialpolitischen Auseinandersetzungen, vor allem mit den rheinischen Pfalzgrafen, permanent auf flüssige Geldmittel angewiesen war. Zudem verfügte er, anders als die Andernacher Stadtgemeinde, über ausreichende Sicherheiten. Schon bevor er sich bei Reynette und anderen Juden und Christen, vorwiegend aus Mainz, Bingen und Frankfurt, ins Debet stellte, hatte Adolf 1378 mit Jakob von Jülich geschäftliche Kontakte zu einem Koblenzer Juden aufgenommen. Doch reichten dessen Mittel bei weitem nicht aus, um Adolfs enorme Kapitalnachfrage zu befriedigen, so daß Reynette in der Folgezeit mehrere tausend Gulden in diese Geschäftsbeziehung investieren konnte, für die ihr Einnahmen aus dem mainzischen Zoll in Oberlahnstein als Sicherheiten angewiesen wurden.

Reynettes herausragende Stellung auf dem Koblenzer Kapitalmarkt tritt jedoch am deutlichsten im nüchternen Vergleich der Zahlen zutage. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts lag das Schwergewicht der jüdischen Kreditgeschäfte noch eindeutig auf der Kathedralstadt Trier. Den bis zu diesem Zeitpunkt ermittelten 95 Geldgeschäften stadttrierischer Juden standen nur 22 ihrer Koblenzer Glaubensgenossen gegenüber. Ein gänzlich anderes Bild präsentiert sich jedoch für den Zeitraum nach 1350, also für die Phase zwischen der Pestverfolgung und der Vertreibung der Juden aus dem Erzstift im Jahre 1418. Während für Trier insgesamt nurmehr 64 Kreditoperationen zu erschließen sind, stieg die Zahl der in Koblenz nachweislich getätigten jüdischen Darlehen auf 132 an. Von diesen gingen allein 60 Kredite, mithin mehr als 45 %, auf das Konto von Reynette. Noch klarer wird die absolut dominierende Position dieser Jüdin, wenn man sich vor Augen hält, daß allein zehn der insgesamt 14 Koblenzer Darlehen, die sich in der Größenordnung über 1000 Gulden bewegten, von ihr finanziert wurden.

An Reynettes Selbständigkeit änderte sich auch nichts, als sie spätestens 1377 Moses, den Sohn des 1351 in die Stadt aufgenommenen Jakob aus der einflußreichen Familie Bonenfant heiratete. Moses verfügte wie sein Vater über rabbinische Kenntnisse, seinen Lebensunterhalt aber verdiente er sich nicht als Lehrer, sondern mit kleineren Geldgeschäften vorwiegend in Oberlahnstein. An größere Kreditoperationen traute er sich meist nur im Verbund mit seiner Frau Reynette. Sie dürfte es wohl auch gewesen sein, die 1384 hinter seiner Pacht des Koblenzer Moselzolls stand, den der Trierer Erzbischof dem Moses und seinen nicht näher spezifizierten Geschäftspartnern, die er sich frei wählen konnte, für sechs Jahre gegen eine Jahresmiete von 2200 Gulden überlassen hatte.

Trotz ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit und ihrer enormen finanziellen Leistungskraft war Reynette ihren männlichen Glaubensgenossen und Berufskollegen nicht vollauf gleichgestellt. So führte sie kein eigenes Siegel, sondern benutzte bis zu ihrer Wiederverheiratung das Siegel ihres ersten Mannes Leo. Es hat denn auch den Anschein, als habe Reynette ihren zweiten Mann weniger deshalb geheiratet, um ihr ohnehin schon beachtliches Finanzvolumen zu erweitern, sondern eher, weil sie sich von dieser Verbindung mit der offenkundig einflußreichsten Koblenzer Judenfamilie einen stärkeren rechtlichen Rückhalt sowie größere soziale Reputation erwartete. Reynette aber blieb nach außen hin der eindeutig dominierende Teil dieser Partnerschaft. Nichts vermag dies deutlicher zu unterstreichen als die Tatsache, daß sich Moses in der Öffentlichkeit bisweilen nach seiner Frau benennen ließ.

Schon unmittelbar nach dem Tod Leos von Münstermaifeld hatte sich Reynette darum bemüht, verwandtschaftliche Beziehungen zu der Familie Bonenfant aufzunehmen. Dabei dachte sie aber zunächst weniger an sich selbst als an ihre Tochter Mede, die sie mit Jakob Bonefant, also mit ihrem späteren Schwiegervater, zu verehelichen suchte. Jakob aber war wie Reynette selbst ein sogenannter „erbeigener“ Jude des Erzbischofs, während Mede diesem speziellen Rechtsstatus nicht unterworfen war und gewisse Freiheiten genoß. Die komplizierte Rechtslage erforderte die Zustimmung des erzbischöflichen Landesherren zu dieser Eheabredung. Im Januar 1366 schließlich gab Erzbischof Kuno von Falkenstein sein Plazet zu der geplanten Ehe, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß die gemeinsamen Kinder gemäß der Reihenfolge ihrer Geburt in der ungeraden Zahl der Erbeigenschaft des Vaters, in der geraden Zahl aber der Freiheit der Mutter folgen sollten.

Entgegen den Plänen ihrer Mutter zog es Mede jedoch vor, statt des alten Witwers das Weite zu suchen, weshalb sie sich schließlich in die Pfalzgrafschaft absetzte. Später wechselte die eigenwillige Tochter Reynettes in das Territorium des Mainzer Erzbischofs, unter dessen Schutz sie 1387 in Bingen angesiedelt wurde. Spätestens dort lernte sie ihren Ehemann Lieser von Straßburg kennen, mit dem gemeinsam sie Anfang 1390 wieder in das Trierer Erzstift zurückkehrte. Am 1. Januar dieses Jahres erhielten die beiden von Erzbischof Werner von Falkenstein das Recht, sich mit Kindern und Gesinde für zunächst drei Jahre in Oberwesel gegen einen jährlichen Schutzzins von 35 Gulden häuslich niederzulassen.

Was Mede zu diesem erneuten Wohnungswechsel und zur Rückkehr in die kurtrierische Landesherrschaft trieb, war die zu erwartende Erbschaft ihrer mittlerweile hochbetagten Mutter. Mede hatte allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn Erzbischof Werner bestritt plötzlich die Rechtskraft ihrer ursprünglich von Erzbischof Boemund II. verliehenen Freiheiten, so daß er Mede wie ihre Mutter als erbeigene Jüdin betrachtete. Unter vorgeblicher Großmut verzichtete er jedoch am 13. Juli 1390 gegenüber Mede auf seine vermeintlichen Rechtsansprüche und gewährte ihr die alten Freiheiten, jedoch unter der Bedingung, daß sie das Erbe Reynettes nicht antrat. Sollte sie dies dennoch tun, erkannte sie damit automatisch ihren Status als erbeigene Jüdin des Trierer Erzbischofs und seines Stiftes an.

Für Mede waren diese Auflagen nicht akzeptabel. Sie verzichtete auf ihre Erbansprüche und zog es statt dessen vor, als freie Jüdin in Köln und später im kurmainzischen Bingen zu leben. Von hier aus siedelte sie gemeinsam mit ihrem Sohn Jakob und unter dem Schutz König Ruprechts nach Speyer über, wo sich ihre Spur schließlich Anfang des 15. Jahrhunderts verliert. Medes Ehemann Lieser begab sich nach dem Tode seiner Schwiegermutter im Juli 1397 nach Koblenz, wo er für sich und seine noch unmündige Tochter Trinlin das Erbe Reynettes antrat. Am 21. Juli bekundete er feierlich, daß er als Gegenleistung für den vom Kurfürsten gnädig gewährten Nachlaß erbeigener Jude des Trierer Erzbischofs und des Erzstifts geworden sei. Er verpflichtete sich, das kurtrierische Territorium wie die anderen erbeigenen Juden mit Leib und Gut nicht mehr zu verlassen und keine anderen Herren und Freiheiten zu suchen. Darüber hinaus verzichtete er freiwillig auf alle seine bisherigen Freiheiten und Vorrechte, ganz gleich, von wem er diese erworben hatte.

Lieser konnte aber an die wirtschaftlichen Leistungen seiner Schwiegermutter in keiner Weise anknüpfen. Nicht ein einziges Geldgeschäft ist von ihm überliefert. Mit Reynettes Tod war die nur ein Menschenalter währende Blütezeit der zweiten Koblenzer Judengemeinde ein für allemal vorbei. Ein zweiter Schwiegersohn Reynettes, Michel, der Sohn des Trierer Juden Gottschalk von Montabaur, war zwar noch bis in das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts auf dem Koblenzer Kapitalmarkt tätig und zog zeitweise sogar im Auftrag König Sigmunds die Reichsjudensteuer ein, doch war das Volumen seiner Darlehensaktivitäten im Vergleich zu Reynette nur noch sehr bescheiden. 1410 mußte er sich sogar selbst für 200 Gulden bei einem Koblenzer Bürger verschulden.

Im Schicksal der überaus erfolgreichen Koblenzer Geschäftsfrau Reynette spiegelt sich der keineswegs untypsische Verlauf eines jüdischen Frauenlebens im Spätmittelalter wider. Reynettes Leben ist über weite Strecken repräsentativ für die Existenzverhältnisse wirtschaftlich aktiver jüdischer Frauen jener Zeit, wenngleich ihr außergewöhnlicher wirtschaftlicher Erfolg sowie ihre besondere rechtliche Stellung als erbeigene erzbischöfliche Jüdin sie von den meisten ihrer Glaubensgenossinnen unterscheidet. Gemessen an ihrem finanziellen Erfolg stand sie auf einer Stufe mit der Frankfurter Jüdin Zornlin, die zur gleichen Zeit den im Vergleich zu Koblenz noch bedeutenderen jüdischen Kapitalmarkt der Mainmetropole beherrschte. Beide Frauen weisen ein ähnliches Karriereprofil auf, an dessen Anfang die Ehe mit einem erfolgreichen Geldhändler stand und an dessen Geschäften sie bereits aktiv beteiligt waren. Ihre größten Erfolge aber verzeichneten die beiden Frauen erst, nachdem sie die Geldleihe eigenständig und als unabhängige Witwen weiterführen konnten. Auch ihre zweiten Ehemänner, die sie wohl eher aus rechtlichen Gründen und um des Prestiges Willen heirateten, stellten sie geldwirtschaftlich in den Schatten. Im gesamten Rheinland gab es nur sehr wenige männliche Juden, die ihnen in dieser Hinsicht überhaupt das Wasser reichen konnten.

Reynette und Zornlin markieren mit ihrem Leben auf eindrucksvolle Weise eine Wende in der Gesellschaft des mittelalterlichen aschkenasischen Judentums. Erwerbstätige jüdische Frauen, die – abgesehen von den zahlreichen meist unverheirateten Dienstmägden sowie Bettlerinnen, Spielweibern und Prostituierten – ihre Familien als Hebammen, Ärztinnen, Stickerinnen, Weberinnen, Bademeisterinnen oder durch sonstige Dienstleistungen oder handwerkliche Fertigkeiten ernährten, gab es schon seit jeher. Nicht selten sorgten die jüdischen Frauen ganz allein für den Unterhalt einer Familie, um ihren Ehemännern auf diese Weise ein lebenslanges und ungestörtes Talmud- und Thora-Studium zu ermöglichen. Seit dem 14. Jahrhundert aber gewann der Beruf der weiblichen Geldhändlerin auch im deutschen Reichsgebiet zunehmend an Bedeutung, nachdem er in Frankreich schon seit längerer Zeit verbreitet war. In manchen Städten lag der Anteil der Frauen unter den jüdischen Geldverleihern nunmehr bei zum Teil mehr als einem Viertel, wobei die beachtliche Zahl an Witwen besonders auffällig ist.

Im Hintergrund dieser Entwicklung, die für viele jüdische Frauen größere Freiräume schuf und ihnen insgesamt mehr Selbständigkeit brachte, stand ein Wandel im jüdischen Erb- und Eherecht, der wiederum als eine Reaktion auf veränderte rechtliche Rahmenbedingungen der jüdischen Existenz in ihrer christlichen Umwelt zu bewerten ist. Während ursprünglich die jüdische Gemeinde als die wichtigste rechtliche Instanz in der Beziehung der Juden zu den nichtjüdischen Herrschaftsträgern und Schutzmächten galt, gewann seit dem 14. Jahrhundert die Einzelfamilie zunehmend an Bedeutung. Die in dieser Zeit aufkommenden individuellen und befristeten Schutz- und Niederlassungsprivilegien, die an jüdische Haushaltsvorstände gegen jährliche Gebühren vergeben wurden, können dies zu Genüge illustrieren.

Bedingt durch die besondere rechtliche Entwicklung gewann die jüdische Familie nunmehr auch als wirtschaftliche Kleinstorganisation eine wesentliche größere Geltung. Sie war als solche aber auf das äußerste gefährdet, sobald das Familienoberhaupt starb und das Vermögen an die bis dahin ausschließlich erbberechtigte männliche Nachkommenschaft aufgeteilt werden mußte. Vornehmlich aus diesem Grund wurde das jüdische Erb- und Eherecht im frühen 14. Jahrhundert dahingehend geändert, daß man auch den Frauen größere Rechte einräumte. Angesichts der eingangs erwähnten Einwanderungswelle von gallo-romanischen Juden in das Rheingebiet zu Beginn des 14. Jahrhunderts liegt die Vermutung durchaus nahe, daß der Impuls für diese Erbrechtsänderung möglicherweise von den Immigranten ausging, in deren ehemaliger Heimat selbständige weibliche Geldverleiherinnen ja schon seit geraumer Zeit keine Seltenheit mehr waren. Daß die jüdischen Frauen auch im deutschen Reichsgebiet die sich ihnen bietenden neuen Chancen konsequent und überaus erfolgreich zu nutzen wußten, zeigen uns der Lebensweg und der wirtschaftliche Erfolg von Reynette auf eindrucksvolle Weise.

  • Literaturhinweise:
  • Burgard, Friedhelm: Zur Migration der Juden im westlichen Reichsgebiet im Spätmittelalter. In: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters. Hg. v. Alfred Haverkamp und Franz-Josef Ziwes. Berlin 1992 (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 13), S. 41–57.
  • Cluse, Christoph: 1307 – Die Koblenzer Judengemeinde wird in die Bürgerschaft der Stadt aufgenommen. In: xxxQuellenbuch SFB.
  • Haverkamp, Alfred: Die Juden im Erzstift Trier während des Mittelalters. In: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Hg. v. Alfred Ebenbauer und Klaus Zatloukal. Wien u.a. 1991, S. 67–89.
  • Haverkamp, Alfred: Zur Siedlungs- und Migrationsgeschichte der Juden in den deutschen Altsiedellanden während des Mittelalters. In: Juden in Deutschland. Hg. v. Michael Matheus. Stuttgart 1995 (Mainzer Vorträge; 1), S. 9–32.
  • Ziwes, Franz-Josef: Die jüdische Gemeinde im mittelalterlichen Koblenz – Yre gude ingesessen burgere. In: Geschichte der Stadt Koblenz. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der kurfürstlichen Zeit. Hg. v. Ingrid Bátori in Verbindung mit Dieter Kerber und Hans Josef Schmidt. Stuttgart 1992, S. 247–257.
  • Ziwes, Franz-Josef: Zum jüdischen Kapitalmarkt im spätmittelalterlichen Koblenz. In: Hochfinanz im Westen des Reiches, 1150.1500. Hg. v. Friedhelm Burgard u.a. Trier 1996 (Trierer Historische Forschungen; 31), S. 49–74.
  • Ziwes, Franz-Josef: Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters. Hannover 1995 (Forschungen zur Geschichte der Juden; A 1).
  • Ziwes, Franz-Josef: Reynette – eine jüdische Geldhändlerin im spätmittelalterlichen Koblenz. In: Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur, NF 4, 1994, S. 25–40.